Lotte in Weimar: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)
Es heißt einen schlechten Gebrauch machen von der Gunst der Stunde, wenn ich der Pflicht, mich Ihnen darzustellen mit übertriebener Gewissenhaftigkeit nachkomme. Wahrhaftig, was mich hierher trieb, war nicht der Wunsch zu reden, es war der zu schauen, zu hören. Ich nannte die Stunde günstig, ich hätte sie kostbar nennen sollen. Ich finde mich Aug' in Auge mit einem Wesen, dem die gerührteste, ehrfürchtigste Anteilnahme, die Schau- und Wißbegier aller Stufen, von der kindlich-volkstümlichsten bis zur geistigsten, gebührt und gehört, – mit der Frau, die am Anfang, oder fast am Anfang, {66} der Geschichte des Genius steht, deren Name vom Gott der Liebe selbst auf ewig in sein Leben und damit in das Werden des vaterländischen Geisterreiches, des Imperiums des deutschen Gedankens verwoben ist … Und ich, dem es beschieden war, ebenfalls in dieser Historie Figur zu machen und auf meine männliche Art dem Helden beirätig zur Hand zu gehen, ich, der ich sozusagen dieselbe heroische Lebensluft mit Ihnen atme, – wie sollte ich nicht eine ältere Schwester in Ihnen sehen, vor der mich zu neigen es mich unwiderstehlich drängte, sobald der Geruch Ihrer Gegenwart zu mir drang, – eine Schwester, eine Mutter, wenn Sie wollen, eine nahe, verwandte Seele jedenfalls, der mich redend zu erkennen zu geben mich wohl verlangt, aber weit mehr noch, ihr zu lauschen … Was ich fragen wollte – die Erkundigung schwebt mir längst auf der Zunge. Sagen Sie mir, teuerste Madame, sagen Sie es mir als Retribution für meine freilich weniger beträchtlichen Bekenntnisse … Man weiß, wir wissen es alle, und die Menschheit begreift es vollkommen, daß Sie und Ihr in Gott ruhender Gatte – daß Sie gelitten haben unter der Indiskretion des Genius, unter seiner bürgerlich schwer zu rechtfertigenden Art, mit Ihren Personen, Ihren Verhältnissen dichterisch umzuspringen, sie vor der Welt, buchstäblich vor dem Erdkreise unbedenklich bloßzustellen und dabei Wirklichkeit und Erfindung mit jener gefährlichen Kunst zu vermischen, die sich darauf versteht, dem Wirklichen eine poetische Gestalt zu geben und dem Erfundenen den Stempel des Wirklichen zu verleihen, sodaß der Unterschied zwischen beidem tatsächlich aufgehoben und eingeebnet erscheint, – gelitten, um es kurz zu sagen, unter der Rücksichtslosigkeit, dem Verstoß gegen Treu und Glauben, deren er sich zweifellos schuldig machte, indem er hinter dem Rücken der Freunde, in heimlicher Tätigkeit, das Zarteste, was sich unter drei Menschen begeben kann, zugleich zu verherrlichen und zu entweihen unternahm … Man weiß {67} es, verehrteste Frau, man fühlt es mit. Sagen Sie mir, ich hörte es um mein Leben gern: Wie haben Sie und der selige Hofrat sich auf die Dauer mit dieser bestürzenden Erfahrung, mit dem Lose unfreiwilliger Opfer abgefunden? Ich meine: wie und wie weit ist es Ihnen gelungen, den durch die empfangene Wunde verursachten Schmerz, die Kränkung darüber, Ihre Existenz als Mittel zum Zweck behandelt zu sehen, in Harmonie zu bringen mit anderen, späteren Gefühlen, die die Erhöhung, die gewaltige Ehrung dieser Existenz Ihnen erwecken mußte? Wenn ich darüber etwas von Ihnen hören dürfte …«
»Nein, nein, Herr Doktor«, versetzte Charlotte rasch, »von mir nicht jetzt. Von mir allenfalls später oder vielmehr natürlich: ein andermal. Es liegt mir daran, Ihnen zu zeigen, daß es mehr als façon de parler ist, wenn ich versichere, Ihnen mit vollstem Anteil zuzuhören. Ich tue gut daran, denn Ihre Beziehungen zum Genius sind zweifellos die ungleich wichtigeren und denkwürdigeren –«
»Das ist sehr strittig, Verehrteste.«
»Wechseln wir nicht Complimente! – Nichtwahr, Sie sind im Norden Deutschlands zu Hause, Herr Professor? Ich meine es Ihrer Aussprache anzuhören.«
»Ich bin Schlesier«, sagte Riemer nach kurzer Pause gemessen. Auch er empfand zwiespältig. Ihr Ausweichen verletzte ihn; aber daß sie ihn anhielt, weiter von sich zu sprechen, war auch wieder nach seinem Sinn.
»Meine teueren Eltern waren mit Glücksgütern nicht reich gesegnet«, fuhr er fort. »Ich kann es ihnen nicht hoch genug anrechnen, daß sie alles daransetzten, um mir die Ausbildung der mir von Gott verliehenen Gaben, das Studium zu ermöglichen. Mein Lehrer, der liebe Geheimrat Wolf in Halle – hielt schöne Stücke auf mich. Ihm nachzuleben war der Wunsch meines Herzens. Die Laufbahn als Universitätslehrer, ehrenvoll und mit Freizeiten
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