Lotte in Weimar: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)
ihretwillen gekommen war, sondern sie als Gelegenheit nahm, von jenem, seinem Herrn und Meister zu sprechen und dabei allenfalls der Lösung eines verjährten Rätsels, das sein Leben beherrschen mochte, näher zu kommen. Sie fand sich auf einmal in die Rolle Lott {59} chens, der Jüngeren, eingerückt, die Vordergründe und Vorwände durchschaute, den Mund über fromme Selbsttäuschungen verzog, und war geneigt, ihr abzubitten, da sie sich sagte, daß wir nichts für Einsichten können, die uns aufgedrängt werden, und daß solche Einsichten etwas Unangenehmes haben. Das Bewußtsein als bloßes Mittel zu dienen, war auch nicht schmeichelhaft; doch sah sie ein, daß sie dem Manne nichts vorzuwerfen hatte, da sie ihn so wenig um seinetwillen empfing, wie er sie um ihretwillen besuchte. Auch sie hatte Unruhe hierher geführt, die Lebensbeunruhigung durch ein ungelöstes und ungeahnt groß herangewachsenes Altes, der unwiderstehliche Wunsch, es wieder aufleben zu lassen und »extravaganter« Weise die Gegenwart daran zu knüpfen. Sie waren Complicen, gewissermaßen, und in geheimem Einverständnis, der Besucher und sie, zusammengeführt durch ein quälend-beglückendes, sie beide in schmerzender Spannung haltendes Drittes, bei dessen Erörterung und möglicher Schlichtung der Eine dem Andern behilflich sein sollte. – Sie lächelte künstlich und sagte:
»Ist es denn zu verwundern, mein lieber Herr Doktor, daß Sie den Faden verlieren, da Sie sich verführen lassen, an eine so harmlos menschliche kleine Tatsache wie Ihr Langschläfertum so weitläufige moralische Reflexionen und Unterscheidungen zu knüpfen? Der Gelehrte in Ihnen spielt Ihnen einen Streich. Aber wie ist es denn nun? Sie konnten sich jene Schwäche, wie Sie es nennen – ich nenne es eine Gewohnheit wie eine andere – in Ihrer früheren Stellung, der neunjährigen, beliebig gönnen; aber wenn mir recht ist, bekleiden Sie heute ein städtisches Lehramt, – ich müßte mich irren, nichtwahr, Sie sind Gymnasialdozent? Verträgt sich denn jene Liebhaberei, auf die Sie ein gewisses Gewicht zu legen scheinen, auch mit dieser Ihrer gegenwärtigen Kondition?«
»Allenfalls«, erwiderte er, indem er ein Bein übers andere {60} schlug und den Stock, den er an beiden Enden hielt, querhin auf das Knie stemmte. »Allenfalls, in Ansehung nämlich der früheren, die ja neben der neuen fast uneingeschränkt fortbesteht, und die zu bekannt ist, als daß nicht einige Rücksicht sollte darauf genommen werden. – Frau Hofrätin haben ganz recht«, sagte er und gab sich eine gemessenere Haltung, da er die vorige auf die Dauer als unpassend empfand und sich nur aus Gefallen an der Rücksichtnahme, deren Gegenstand er war, für den Augenblick hatte dazu hinreißen lassen, »seit vier Jahren bin ich am hiesigen Gymnasium angestellt und halte selbständig Haus, – der Augenblick zu diesem Wechsel der Lebensform war unabweislich gekommen; bei allen geistigen und materiellen Annehmlichkeiten und Freuden, die das Leben im Hause des großen Mannes gewährte, war es für den schon Neununddreißigjährigen gewissermaßen zu einer Sache der Mannesehre, einer reizbaren Mannesehre, verehrteste Frau, geworden, sich so oder so auf eigene Füße zu stellen. Ich sage: ›So oder so‹, denn meine Wünsche, meine Träume hatten höher gegriffen, als nach diesem pädagogischen Mittelstand, und haben sich noch immer nicht völlig darauf resigniert, – sie zielten auf das höhere Lehrfach, auf die Tätigkeit an einer Universität nach dem Vorbilde meines verehrten Lehrers, des berühmten klassischen Philologen Wolf in Halle. Es hat nicht sein sollen, hat sich bis jetzt nicht fügen wollen. Man könnte sich darüber wundern, nichtwahr? Man könnte die Überlegung anstellen, daß meine langjährige illustre Mitarbeiterschaft das schnellkräftigste Sprungbrett zum Ziel meiner Wünsche hätte abgeben müssen, – könnte sich sagen, daß es einer so hohen und einflußreichen Freund- und Gönnerschaft ein Leichtes hätte sein müssen, mir das ersehnte Lehramt an einer deutschen Hochschule zu verschaffen. Ich glaube dergleichen Fragen in Ihren Augen zu lesen. Ich habe nichts darauf zu erwidern. Ich kann nur sagen: Diese Förderung, diese Protektion, {61} dies belohnende Machtwort, sie sind ausgeblieben, sie sind mir, aller menschlichen Erwartung und Kalkulation entgegen, nun einmal nicht zuteilgeworden. Was hülfe es, sich bittere Gedanken darüber zu machen? Man tut es wohl, o doch,
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