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Lotte in Weimar: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Lotte in Weimar: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Titel: Lotte in Weimar: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Mann , Werner Frizen
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vollster Freiheit genieße, da andere nach ernstem Tage, von Geschäftssorgen müde, sich bei der Liebsten einfänden und sich ihr nicht mehr darzustellen vermöchten wie sie wohl wünschten. Daß hier eine Ungerechtigkeit liege, habe ich jederzeit eingesehen und sie meinem Hans Christian zugute gehalten, wenn ich auch meine Zweifel hatte, ob die Mehrzahl der jungen Leute bei größerer Muße – und einige Muße hatten sie doch auch – sich so blühenden Geistes und warmen, innigen Witzes erwiesen hätten, wie unser Freund. Von der anderen Seite aber hielt ich mich an, einen Teil seiner Feurigkeit auf Rechnung seines Müßigganges zu setzen und darauf, daß er sein Naturell so ganz ungeschmälert der Freundschaft widmen durfte, – einen Teil; denn es war da eine schöne Kraft des Herzens und – wie soll ich es nennen – ein Lebensglanz, die mir in dieser Erklärung denn doch nicht aufgehen zu wollen schienen, und selbst wenn er sein langes Gesicht hatte, traurig und bitter erschien und auf Welt und Gesellschaft schmälte, so war er immer noch interessanter als die Arbeit {73} samen am Sonntag. Das sagt mir meine Erinnerung mit voller Deutlichkeit. Öfters ließ er mich an eine Damaszener Klinge denken – ich wüßte nicht mehr genau zu sagen, in welchem Vergleichssinne –, aber auch an eine Leidener Flasche und dies im Zusammenhang mit der Idee der Geladenheit, – denn er wirkte gleichsam geladen, hochgeladen, und es kam einem unwillkürlich die Vorstellung, man würde, wenn man ihn mit dem Finger berührte, einen Schlag empfangen, wie es bei einer Art von Fischen der Fall sein soll. Kein Wunder, daß andere, noch so vortreffliche Menschen einem leicht fade vorkamen in seiner Gegenwart oder selbst in seiner Abwesenheit. Auch hatte er, wenn ich meine Erinnerung befrage, einen eigentümlich aufgetanen Blick, ich sage ›aufgetan‹, nicht weil seine Augen, braun und etwas nahe beisammenliegend wie sie waren, sonderlich groß gewesen wären, aber ihr Blick war sehr aufgetan und seelenvoll nach einer ausnehmend starken Meinung des Wortes, und sie wurden schwarz, wenn sie, wie das vorkam, vor Herzlichkeit blitzten. Ob er wohl heute noch diese Augen hat?«
    »Die Augen«, sagte Dr. Riemer, »die Augen sind mächtig bisweilen.« Seine eigenen, glasig vortretenden, zwischen denen ein Kerbzeichen bemühten Grübelns stand, zeigten an, daß er schlecht zugehört und eigene Gedankengänge verfolgt hatte. Sich über das Kopfnicken der Matrone aufzuhalten wäre ihm übrigens nicht zugekommen, denn wie er die große weiße Hand von der Stockkrücke zu seinem Gesicht hob, um irgend ein leichtes Jucken an der Nase nach Art des feinen Mannes durch eine zarte Berührung mit der Kuppe des Ringfingers zu beheben, sah man deutlich, daß auch diese Hand zitterte. Charlotte selbst bemerkte es und war so wenig angenehm berührt davon, daß sie die entsprechende Erscheinung bei sich selbst, wie es ihr durchaus möglich war, wenn sie acht gab, sogleich abstellte.
    »Es ist ein Phänomen«, fuhr der Doktor im eigenen Geleise {74} fort, »wert sich darein zu vertiefen und fähig, einem Stunden lang Gedanken, wenn auch ziemlich unersprießliche und zu nichts führende Gedanken zu machen, sodaß denn auch die innere Beschäftigung damit mehr als Träumerei denn als eigentliches Nachdenken zu bezeichnen ist: dies Sigillum der Gottheit, will sagen der Anmut und Form, das die Natur einem Geiste mit einem gewissen Lächeln, so möchte man sich vorstellen, aufdrückt, wodurch er denn also zum schönen Geiste wird, – ein Wort, ein Name, den man mechanisch hinspricht, um eine der Menschheit freundlich geläufige Kategorie damit zu bezeichnen, wenn es doch, aus der Nähe gesehen und recht betrachtet, ein unergründliches und beunruhigendes, auch persönlich etwas kränkendes Rätsel bleibt. Es war, wenn ich nicht irre, von Ungerechtigkeit die Rede; nun, auch hier, zweifellos, ist Ungerechtigkeit im Spiele, natürliche und darum ehrwürdige, ja entzückende Ungerechtigkeit, nicht ganz ohne kränkenden Stachel aber dabei für den, dem es beschieden ist, sie tagtäglich zu beobachten und zu durchkosten. Wertveränderungen, Entwertungen und Überwertungen haben da Statt, die man mit Wohlgefallen, mit unwillkürlichem Beifall wahrnimmt, denn ohne zum Empörer gegen Gott und die Natur zu werden, kann man ihnen seine freudige Zustimmung nicht versagen; allein heimlich und in bescheidener Stille muß man sie aus Rechtsgefühl doch auch wieder

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