Lotte in Weimar: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)
etwas Wegwerfendes, eine Geringschätzung der Jugend und ihres Sonderdaseins, dessen Rechte und Pflichten er denn doch wohl verkennt, wenn er dafür zu halten scheint, Kinder seien nur für die Eltern da, ihre Aufgabe sei lediglich, zu den Eltern emporzuwachsen und ihnen allmählich das Leben abzunehmen …«
»Mein geschätzter Herr Doktor«, warf Charlotte ein, »es gibt überall und jederzeit in aller Liebe so manches Mißverständnis und Mißverhältnis zwischen Eltern und Kindern, so manche Unduldsamkeit der Kinder gegen das Eigenleben der Eltern, der denn auch wohl ein mangelnder Sinn der Eltern für das besondere Recht der Kinder leidig erwidern mag.«
»Zweifellos«, sagte der Besucher unaufmerksam, das Gesicht zur Decke gewandt. »Ich habe mich öfters mit ihm, im Wagen und im Studierzimmer, über die pädagogische Frage unterhalten, – unterhalten und nicht gestritten, denn weniger lag mir daran, den eigenen Überzeugungen Geltung zu verschaffen, als in ehrerbietiger Neugier die seinen zu erkunden. Tatsächlich versteht er unter Jugendbildung einen Reifeprozeß, den man unter günstigen Umständen – und für seinen Sohn nimmt er mit Recht die günstigsten in Anspruch – in Hinsicht auf ihn, den Vater, versteht sich, denn was die Mutter betraf – nun denn, – den man also unter so günstigen Umständen mehr oder weniger sich selber überlassen mag. August ist sein Sohn – in dieser Eigenschaft vollendete sich für ihn von jeher so ziemlich die Existenz des Knaben, des jungen Menschen, dessen {71} Bestimmung eben keine andere war, als sein Sohn zu sein und ihn mit der Zeit von beschwerlichen Tagesgeschäften zu entlasten. Das flog ihm von selber an, indem er nur wuchs. An eine persönliche Ausbildung, eine Erziehung zu sich selbst und zu eigenen Zwecken war weniger gedacht. Wozu also viel Zwang und systematische Lernquälerei? Man muß bedenken, daß die Jugend des Meisters selbst davon frei gewesen ist. Nennen wir die Dinge bei Namen: eine eigentliche Schulung hat er seinerzeit nicht erfahren und als Knabe und Jüngling nur Weniges gründlich durchgearbeitet. Das wird ihm niemand so leicht abmerken, höchstens bei sehr langem, genauem Umgange und eigenem ausnehmend gediegenem gelehrten Fundament, denn es versteht sich, daß er bei seiner hurtigen Auffassung, seinem festhaltenden Gedächtnis, der hohen Lebendigkeit seines Geistes trotzdem sehr viele Kenntnisse im Fluge errafft und assimiliert hat und sie vor allem dank Eigenschaften, die eher dem Bereiche des Witzes, der Anmut, der Form, der Beredsamkeit angehören, mit mehr Glück zur Geltung zu bringen weiß, als manch anderer Gelehrte sein viel größeres Wissen …«
»Ich folge Ihnen«, sagte Charlotte, indem sie sich mit vielem Geschick bemühte, dem Zittern ihres Kopfes, das wieder bemerklich werden wollte, den Sinn rasch nickender Zustimmung zu geben, »ich folge Ihnen mit einer Spannung, über die ich mir zugleich Rechenschaft zu geben suche. Sie haben eine einfache Art zu sprechen, und dennoch hat sie etwas Erregendes; denn erregend ist es, von einem großen Mann einmal nicht mit gang und gäber Schwärmerei, sondern mit Ruhe und Trokkenheit, einem gewissen Realism, aus der intimen Erfahrung des Alltags reden zu hören. Wenn ich mich selbst erinnere und meine eigenen Beobachtungen zu Rate ziehe – mögen sie auch lange her sein – aber sie galten gerade dem jungen Menschen, auf dessen bequeme Art sich zu bilden Sie hinwiesen – nun, er hat es weit genug damit gebracht, um sie strengeren Systemen {72} mit einem gewissen persönlichen Rechte vorzuziehen – jedenfalls – diesen Jüngling, diesen Dreiundzwanzigjährigen, habe ich gut gekannt, ihm lange zugesehen, und kann nur bestätigen: mit seinen Studien, seiner Arbeitsamkeit, seinem Amtseifer war es wenig oder nichts, er hat recht eigentlich nie etwas getan zu Wetzlar, darin, das muß ich sagen, stand er all seinen Gesellen, den Praktikanten und Sollizitanten der Rittertafel nach, Kielmannsegge, Legationssekretär Gotter, der doch auch Verse schrieb, Born und den anderen, selbst dem armen Jerusalem, von Kestnern garnicht zu reden, der schon das ernsteste, beschäftigtste Leben führte und mich denn auch wohl auf den Unterschied aufmerksam machte, indem er mir zu bedenken gab, wie Einer gut habe den Schwerenöter machen, sich frisch, lustig, glänzend und geistreich erweisen und sich in Vorteil setzen bei den Frauenzimmern, wenn er in Gottes Welt nichts zu tun habe und
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