Lotte in Weimar: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)
Vorstellungen wiederkehren. Im Faust, bei jenem kostbaren Gartengespräch, erzählt Margarethe dem Geliebten von ihrem Schwesterchen, dem armen Wurm, das die Mutter nicht tränken kann, und das sie denn also ganz allein erzieht, ›mit Milch und Wasser‹. Wie tief in Lebensfernen liegt das zurück, als eines Tages Ottilie Charlottens und Eduards Knaben liebend aufzieht ›mit Milch und Wasser‹. Mit Milch und Wasser. Wie fest sitzt in dem ungeheueren Kopfe ein Leben lang diese Einbildung bläulich-dünner Flaschennahrung! Milch und Wasser. Wollen Sie mir sagen, wie ich auf Milch und Wasser komme, und was mich überall auf diese, wie mir nun scheint, völlig müßigen und abwegigen Détails gebracht hat?«
»Sie gingen von der Würde aus, Herr Doktor, die Ihrer Hilfstätigkeit, Ihrer Mitwirkung, die gewiß einmal historisch werden wird, an dem Werk meines großen Jugendfreundes gebührt. Erlauben Sie mir übrigens zu leugnen, daß Sie ein müßiges, ein uninteressantes Wort geäußert hätten!«
»Leugnen Sie nicht, Verehrteste! Man spricht immer müßiges Zeug, wenn es um einen allzu großen, allzu brennenden Gegenstand geht, und redet auf eine gewisse fieberhafte Weise am Rande hin, indem man zum eigentlich Wichtigen und Brennenden nicht nur nicht gelangt, es nicht nur thöricht versäumt, sondern sich dabei auch noch selbst in dem stillen Verdachte hat, daß alles, was man redet Vorwand ist, um das Eigentliche und Wichtige nur ja zu meiden. Ich weiß nicht, welche Kopflosigkeit und Panik da waltet. Allenfalls möchte es sich um einen Stauungsvorgang handeln: Kehren Sie eine volle Bouteille geschwinde um, die Oeffnung nach unten, und das Liquidum wird nicht auslaufen, es wird in der Flasche stocken, {80} obgleich der Weg ihm offen ist. Eine Erinnerung und Assoziation, deren Unwesentlichkeit ich nun wieder mit Beschämung empfinde. Und doch! Wie oft ergehen viel Größere, unsäglich Größere als ich sich nicht in unwesentlichen Assoziationen! Um Ihnen von meiner nebenberuflichen oder in Wahrheit immer noch hauptberuflichen Tätigkeit ein Beispiel zu geben: Seit verwichenem Jahre legen wir eine neue Gesamtausgabe, auf zwanzig Bände berechnet, dem Oeffentlichen vor, Cotta in Stuttgart bringt sie zu Markte und zahlt eine schöne Summe dafür, sechszehntausend Taler, ein großzügiger, ja kühner Mann, er bringt manches Opfer, glauben Sie mir, denn unleugbar ist es nun doch einmal so, daß das Publikum von einem großen Teil der Hervorbringungen des Meisters einfach nichts wissen will. Nun denn, zum Behuf dieser Gesamtausgabe sind wir zusammen, er und ich, die ›Lehrjahre‹ wieder durchgegangen; wir lasen sie mit einander von A bis Z, wobei ich mich durch den Hinweis auf manchen feineren grammatischen Zweifelsfall, auch mit Ratschlägen in Dingen der Rechtschreibung und Interpunktion, worin man durchaus nicht sehr fest ist, entschieden nützlich machen konnte. Auch fiel manches schöne Zwischengespräch für mich dabei ab über seinen Stil, den ich ihm zu seiner nicht geringen Unterhaltung kennzeichnete und erläuterte. Denn er weiß wenig von sich, ging wenigstens zu der Frist, als er den ›Meister‹ schrieb, nach seinem eigenen Geständnis noch durchaus schlafwandlerisch zu Werke und findet ein kindliches Vergnügen daran, über sich selber geistreich aufgeklärt zu werden, was nun wieder einmal weder Meyers noch Zelters, sondern des Philologen Sache ist. Es waren herrliche Stunden, Gott weiß es, die wir mit Lektüre eines Werkes verbrachten, das den Stolz der Epoche bildet und auf Schritt und Tritt soviel Anlaß zum Entzücken gibt, obgleich auffallender Weise die Naturpoesie und das Landschaftsgemälde fast keinen Ort darin haben. Und da wir von müßigen {81} Assoziationen sprachen – meine Verehrteste, welche weitschweifig kalte Behaglichkeit doch auch zwischenein in dem Buch! Welch ein Gespinst von unbedeutenden Gedankenfasern! Sehr oft, man muß sich darüber im klaren sein, sind Reiz und Verdienst allein in der endgültigen, der heiter treffenden und erquicklich genauen Formulierung von längst Gedachtem und Gesagtem zu suchen, – womit sich denn freilich ein Neuigkeitszug und -Reiz, eine träumerische Kühnheit und hohe Gewagtheit verbindet, die den Atem benimmt, – ja, dieser Widerspruch von artiger Convenienz und Verwegenheit, ja Tollheit ist gerade die Quelle der süßen Verwirrung, welche dieser einzigartige Autor uns zufügt. Als ich es ihm, mit gebotener Vorsicht, eines Tages aussprach,
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