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Lotte in Weimar: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Lotte in Weimar: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Titel: Lotte in Weimar: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Mann , Werner Frizen
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Jahre war es ihm nicht in den Sinn gekommen oder war es ihm nicht gelungen, in der Vaterstadt, im Elternhaus einzukehren. O, es gibt Entschuldigungen, Abhaltungsgründe: Kriegsläufte, Krankheiten, notwendige Badereisen. Ich nenne auch diese, der Vollständigkeit wegen, aber auf die Gefahr, mir eine Blöße damit zu geben; denn gerade die Badereisen hätten allenfalls zwanglose Gelegenheit zu dem Abstecher gegeben. Er hat es unterlassen sie wahrzunehmen – fragen Sie mich nicht, warum. Uns Knaben mühte sich in der biblischen Stunde der Lehrer vergebens ein Wort des Heilands annehmbar zu machen, das seiner Mutter galt und uns unleidlich, ja ungeheuerlich an {104} muten wollte: ›Weib, was habe ich mit dir zu schaffen?‹ Es sei nicht so gemeint, wie es klinge, versicherte er, weder die scheinbar unehrerbietige Anrede noch auch das Folgende, worin lediglich der Gottessohn das, was uns alle binde, seiner höheren, welterlösenden Sendung unterordne. Umsonst, es gelang dem Erläuterer nicht, uns mit einem Textworte zu versöhnen, das uns so wenig vorbildlich schien, daß niemand es über die Lippen bringen zu können gewünscht hätte. – Verzeihen Sie die Kindheitserinnerung! Sie ist mir geläufig in diesem Zusammenhange und unwillkürlich mischt sie sich in meine Bemühung, Ihnen das Befremdende plausibel zu machen, Sie über einen auffallenden Mangel an Initiative zu trösten. Als er Spätsommer 14 auf seiner Rhein- und Mainreise wieder einmal in Frankfurt Aufenthalt nahm, hatte die Vaterstadt ihn siebzehn Jahre nicht mehr gesehen. Was ist das? Welche Scheu, welche meidende Verlegenheit und nachtragende Scham bestimmt das Verhältnis des Genies zu seinem Ursprung und Ausgang, zu den Mauern, die seinen Puppenstand sahen, und denen er ins Weltweite entwuchs? Schämt es sich ihrer oder schämt es sich vor ihnen? Wir können nur fragen und vermuten. Weder die Stadt aber noch die herrliche Mutter haben sich im Geringsten empfindlich gezeigt. Die Frankfurter Oberpostamtszeitung hat seiner Anwesenheit einen Artikel gewidmet (ich bewahre ihn auf); und was vordem die Mutter betraf, – Werteste! so ist ihre Nachsicht mit seiner Größe jederzeit ihrem Stolz auf das Wunder, das sie der Welt geschenkt, ihrer unendlichen Liebe gleichgekommen. Er blieb zwar fern, aber er schickte doch bandweise die neue Gesamtausgabe seiner Werke, und der erste davon, mit den Gedichten, kam ihr nicht von der Seite. Acht Bände hat sie bis zum Juli ihres Todesjahres erhalten und sie in Halbfranz binden lassen …«
    »Mein lieber Herr Doktor«, fiel Charlotte ein, »ich verspreche Ihnen, mich weder von dem Phlegma der Vaterstadt noch von {105} der Mutterliebe beschämen zu lassen. Sie wollen mich anhalten, wenn ich Sie recht verstehe, mir an ihnen beiden ein Beispiel zu nehmen – alsob ich das auch nur nötig hätte! Meine kleinen Feststellungen habe ich in aller Gelassenheit getroffen, – nicht ohne Sinn für das Kuriose daran, aber ohne Bitterkeit. Sie sehen ja, daß ich es mache, wie der Prophet, der zum Berge kam, da der Berg nun einmal nicht zu ihm kommen wollte. Wäre der Prophet empfindlich, er käme nicht. Auch kommt er ja nur gelegentlich, vergessen wir das nicht; es ist nur eben gerade, daß er den Berg nicht zu vermeiden gedenkt, – denn eben das sähe nach Empfindlichkeit aus. Verstehen Sie mich recht, ich will mit alldem nicht sagen, daß die mütterliche Resignation unserer teuren, in Gott ruhenden Frau Rat so ganz nach meinem Sinn wäre. Ich bin auch Mutter, eine ganze Schar von Söhnen hab ich geboren, und sie sind mir zu ansehnlichen, tätigen Leuten herangewachsen. Aber wenn auch nur einer davon sich aufführen wollte wie der Rätin ihr Mussiö Sohn und wollte mich elf Jahre nicht sehen, sondern an meiner Stätte vorbeireisen ins Bad und wieder zurück, – den würd' ich mores lehren, glaub er mir, Doktor, ich würd' ihn gehörig zausen!«
    Eine zornig lustige Laune schien sich Charlottens bemächtigt zu haben. Sie stieß mit dem Schirm auf bei ihren polternden Worten, ihre Stirn unter dem aschgrauen Haar war gerötet, ihr scherzender Mund auf eine Weise verzogen, wie ein Mund sich nicht gerade nur zum Lächeln verziehen mag, und in ihren blauen Augen standen Thränen der Energie – oder was für Thränen nun immer. Von ihnen schimmerten ihre Augen, indeß sie fortfuhr:
    »Nein, ich will's zugeben, solche Mutter-Genügsamkeit wäre nicht meine Sache; auch als Kehrseite noch so enormer Vorzüge würd' ich sie mir

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