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Lotte in Weimar: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Lotte in Weimar: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Titel: Lotte in Weimar: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Mann , Werner Frizen
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nicht bieten lassen, die Sohnesgenügsamkeit. Sie sollten sehen, ich würde angereist kommen, die Prophetin zum Berge, um ihm den Kopf zurecht zu setzen, – {106} Sie werden mir's zutrauen, da ich ja sogar jetzt angereist komme, um nach dem Rechten zu sehen beim Berge – nicht weil ich Ansprüche an ihn hätte, bewahre, ich bin seine Mutter nicht, und er mag Genügsamkeit üben wegen meiner, soviel ihm beliebt, wiewohl ich nicht leugnen will, daß eine alte Rechnung schwebt zwischen mir und dem Berge, eine unbeglichene, und daß möglicherweise sie es ist, die mich herführt, die alte, unbeglichene, quälende Rechnung …«
    Riemer betrachtete sie aufmerksam. Das Wort »quälend«, das sie gesprochen, war das erste, das eigentlich zu dem Ausdruck ihres Mundes, den Thränen in ihren Augen paßte. Der schwere Mann wunderte sich und bewunderte es, wie Frauen so etwas machen und wie sie schlau bleiben im Gefühl: Im Voraus hatte sie für einen Rede-Text gesorgt, der dem Ausdruck der Qual, einer lebenslangen Qual offenbar, den Thränen, den verzogenen Lippen einen anderen Sinn unterlegte, ihn irreführend interpretierte, sodaß er zu jenem lustig-zornigen Gerede zu gehören schien und schon lange in täuschendem Zusammenhange da war, wann das Wort seines wirklichen Sinnes fiel, damit man nicht das Recht hatte, noch auch nur darauf verfalle, ihn auf dieses zu beziehen, vielmehr ihn immer noch im Sinn des früher Geredeten verstände, durch welches sie sich bei Zeiten das Recht auf diesen Ausdruck gesichert und für seine Mißverständlichkeit gesorgt hatte … Ein raffiniertes Geschlecht, dachte Riemer. In der Verstellung enorm geschickt, befähigt, Verstellung und Aufrichtigkeit untrennbar zu verquicken und recht für die Gesellschaft, die Herzensintrigue geboren. Wir sind Bären und salonunfähige Tölpel, wir anderen Männer, im Vergleich mit ihnen. Wenn ich ihr in die Karten sehe und auf die Schliche komme, so eben nur darum, weil ich mich ebenfalls auf die Qual, eine verwandte Qual, verstehe, und weil wir Complicen sind, Complicen in der Qual … Er hütete sich, sie mit Einwürfen zu stören. Mit seinen breitspurigen {107} Augen blickte er erwartungsvoll auf ihre verzerrten Lippen. Sie sagte:
    »Vierundvierzig Jahre lang, mein lieber Herr Doktor, die zu meinen neunzehn von damals hinzugekommen sind, ist sie mir ein Rätsel geblieben, ein quälendes Rätsel, warum sollt' ich ein Hehl daraus machen, die Genügsamkeit mit Schattenbildern, die Genügsamkeit der Poesie, die Genügsamkeit des Kusses, aus dem, wie er sagt, keine Kinder werden, denn die sind woanders hergekommen, elf an der Zahl, wenn ich die gestorbenen mitrechne: aus meines Kestners rechter und redlicher Liebe nämlich. Sie müssen das recht bedenken und imaginieren, um zu verstehen, daß ich Zeit meines Lebens nicht fertig damit geworden bin. Ich weiß nicht, ob Ihnen die Verhältnisse … Kestner kam gleich bei Beginn der Kammergerichts-Visitation von Hannover zu uns nach Wetzlar, anno 68, als Falcke's Adlat, – Falcke, das war der herzoglich-bremische Gesandte, müssen Sie wissen, – es wird ja das alles einmal eine Rolle spielen in der Geschichte, und wer auf Bildung Anspruch erhebt, wird's wissen müssen, wir wollen uns nur darüber nicht täuschen. Also denn: Kestner kam als bremischer Legationssekretär zu uns in die Stadt, ein ruhiger, lauterer, gründlicher junger Mensch, – ich fünfzehnjähriges Ding – denn ich war bloße fünfzehn damals – hatte gleich ein herzliches Vertrauen zu ihm, da er anfing, soweit seine große Geschäftslast ihm das erlaubte, bei uns zu verkehren im Deutschen Hause und aus und ein zu gehen in unserm vielköpfigen Hausstand, der gerade vor einem Jahr die liebe, teure, unvergeßliche Mutter verloren hatte, von der die Welt aus dem ›Werther‹ weiß, sodaß unser Vater, der Amtmann, vereinsamt war im Gewimmel der Kinder und ich, seine Zweite, selbst noch ein Küken und nicht viel mehr, es mir ließ angelegen sein nach besten Kräften, den Platz der Seligen auszufüllen in Haus und Wirtschaft, den Kleinen die Näschen zu putzen und sie zu sättigen, wie ich's ver {108} stand, und alles zusammenzuhalten nach bestem Vermögen, da unsere Line, die Aelteste, nun einmal nicht recht Lust und Geschick hatte zu dem allen, – sie hat später, anno 76, den Hofrat Dietz geheiratet und ihm fünf brave Söhne geschenkt, von denen der Aelteste, Fritzchen, auch wieder Hofrat geworden ist beim Archiv des

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