Lotte in Weimar: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)
um ihr gleichsam das Wort damit zu erteilen, zitterte in schon unerlaubtem und Besorgnis erregendem Grade; aber er schien es nicht zu bemerken, und obgleich Charlotte dringend wünschte, er möge die Hand doch einziehen, hielt er sie ungeachtet ihrer wie von einer Bodenerschütterung bebenden, ja schlenkernden Finger {97} längere Zeit in der Luft. Der Mann schien völlig erschöpft, und das war nicht zu verwundern. Man redet nicht dermaßen lange in einem Zuge und in so angespannter Wohlgesetztheit von solchen Dingen, das heißt von Dingen, die einem so nahe gehen, wie diese hier dem Doktor offenbar gingen, ohne sich übermäßig auszugeben und die Symptome zu zeigen, die Charlotte mit Ergriffenheit und – um ein Vorzugswort des Besuchers zu gebrauchen – mit »Apprehension«, übrigens auch nicht ganz ohne Widerwillen an ihm wahrnahm: Er war bleich, Schweißtropfen standen auf seiner Stirn, seine Rindsaugen blickten blind und glotzend, und sein offener Mund, dessen sonst bloß maulender Zug dem Ausdruck einer tragischen Maske ähnlicher geworden war, atmete schwer, rasch und hörbar.
Nur langsam beruhigte sich das Schnaufen und Beben seines Leibes, und da keine zartfühlende Frau es als angenehm und schicklich empfindet, einen Mann in – sei es wie immer begründetem – keuchendem Affekte vor sich zu sehen, so suchte Charlotte, sehr tapfer – denn auch ihre Erregung und Spannung war groß, ja abenteuerlich – der Beruhigung durch ein heiteres Lachen nachzuhelfen, das dem Scherzwort vom Kusse galt. Wirklich war dieses ihr gewissermaßen zum Stichwort geworden; sie hatte darauf mit einer Bewegung reagiert, die Riemer als Zeichen, daß sie zu sprechen wünschte, gedeutet hatte, – nicht fälschlich, obgleich ihr nicht klar war, was sie sagen wollte. Sie sagte jetzt und redete gleichsam aufs Geratewohl:
»Aber was wollen Sie nur, mein lieber Herr Doktor? Es geschieht doch der Poesie kein Übel und Unrecht, wenn man sie mit einem Kuß vergleicht. Das ist im Gegenteil ein sehr hübscher Vergleich, der der Poesie durchaus das Ihre gibt, nämlich das Poetische, und sie in den gehörigen, ehrenden Gegensatz zu Leben und Wirklichkeit bringt … Wollen Sie wissen«, fragte sie {98} unvermittelt und als falle ihr etwas ein, womit sie den echauffierten Mann zerstreuen und auf andere Gedanken bringen könnte, »wieviel Kindern ich das Leben geschenkt habe? Elfen, – wenn ich die beiden mitzähle, die Gott wieder zu sich nahm. Verzeihen Sie meine Ruhmredigkeit, – ich war eine leidenschaftliche Mutter und gehöre zu den stolzen, die gern ihr Licht leuchten lassen und auf ihren Segen pochen – eine christliche Frau braucht ja nicht zu befürchten, so verhängnisvoll damit anzustoßen wie die heidnische Königin, – wollen Sie meinem Namensgedächtnis zu Hilfe kommen? – Niobe, der es so übel bekam. Übrigens liegt Kinderreichtum in meiner Familie, es ist kein persönlich Verdienst dabei. Wir daheim im Deutschordenshause wären zu Sechszehn gewesen ohne den Tod von fünfen, – die kleine Schar, bei der ich Mutter spielte, ehe ich's war, hat ja ein gewisses Renommee erlangt in der Welt, und ich weiß noch wohl, was für ein Gaudium mein Bruder Hans, der mit Goethen immer auf besonders kordialem Fuß gestanden, an dem Werther-Buch hatte, als es im Hause von Hand zu Hand ging, – es waren zwei Exemplare, die man in Bogen und Blätter zerlegte zum gleichzeitigen Genuß, und das jüngere Volk, der muntere Hans zumal, ließ sich in seinem Vergnügen, die eigenen häuslichen Verhältnisse in einem Romanbuch so artig genau geschildert zu finden, nicht beikommen, wie sehr verletzt und verschreckt wir beide, mein Guter und ich, uns fühlen mußten über diese Ausstellung unsrer Personen, über soviel Wahrheit, an die soviel Unwahrheit geklebt war …«
»Eben hiernach«, fiel der Besucher, der sich zu erholen begann, angelegentlich ein, »eben nach diesen Gefühlen war ich schon im Begriffe mich zu erkundigen.«
»Ich komme nur so darauf«, fuhr Charlotte fort, »ich weiß nicht wie, und will dabei nicht verweilen. Es sind vernarbte Wunden, und kaum die Narben noch erinnern an ehemalige Schmerzen. Das Wort ›angeklebt‹ kam mir in den Sinn, weil es {99} damals eine Rolle spielte in der Auseinandersetzung und der Freund sich in Briefen gar lebhaft dagegen verwahrte. Es schien ihm vor allem nahe zu gehn. ›Nicht angeklebt –: eingewoben‹, schrieb er, ›trutz euch und andern!‹ Nun gut, also
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