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Lotte in Weimar: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Lotte in Weimar: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Titel: Lotte in Weimar: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Mann , Werner Frizen
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sondern von Kestnern. Sagen Sie mir nun aber doch, Herr Doktor: Finden Sie nicht, daß in der stürmischen Freude, die er über dies nicht von mir, sondern von meinem Verlobten, von uns beiden also, empfangene Geschenk bekundete, und in seiner großen Anhänglichkeit daran eine wunderliche Genügsamkeit liegt?«
    »Es ist Dichter-Genügsamkeit«, sagte Riemer, »von der Sie sprechen, und für die hoher Reichtum ist, wobei andere darbten.«
    »Dieselbe offenbar«, nickte Charlotte, »die ihn auch mit den Schattenbildern der Kinder sich begnügen ließ, statt eigener, wirklicher Bekanntschaft mit ihnen, die so leicht, bei so mancher Reise-Gelegenheit zu machen gewesen wäre. Und hätten nicht August und Theodor die Initiative ergriffen und ihn kühnlich besucht von Frankfurt aus auf der Gerbermühle, so hätte er nie von den Leutchen eines zu sehen bekommen, die er doch, wie er sagte, am liebsten samt und sonders aus der Taufe gehoben hätte, denn so nahe seien sie ihm wie wir. Wie wir. Sein alter Kestner, mein guter Hans Christian, hat heimgehen müssen und mich allein gelassen vor sechszehn Jahren schon, ohne {102} ihn wiedergesehen zu haben, und nach meinem Ergehen hat er sich bei den Jungen sehr artig erkundigt, hat aber nie den leisesten Versuch gemacht, sich selbst danach umzutun, durch unser beider langes Leben hin, und wenn nicht auch ich nun vor Torschluß noch die Initiative ergriffe – was zu tun ich vielleicht Anstand nehmen sollte, aber es ist meine Schwester Ridel, die ich besuche, und alles Weitere, versteht sich, läuft auf ein À propos hinaus …«
    »Teuerste Frau« – und Dr. Riemer beugte sich näher zu ihr, ohne sie übrigens anzusehen; vielmehr hielt er die Lider gesenkt, und eine gewisse Starre nahm von seinen Zügen Besitz für das, was er vorzubringen gedachte und wozu er die Stimme dämpfte: – »Teuerste Frau, ich respektiere das À propos, ich begreife überdies die Empfindlichkeit, die leichte Bitterkeit, die sich in Ihren Worten äußern, das schmerzliche Erstaunen über einen Mangel an Initiative, der nicht ganz natürlich anmuten, dem menschlichen Empfinden vielleicht nicht ganz gelegen sein mag. Ich darf Sie bitten, sich nicht zu wundern. Oder vielmehr zu bedenken, daß, wo soviel Grund zur Bewunderung ist, immer auch einiger Anlaß zur Verwunderung, zum Befremden mit unterlaufen wird. Er hat Sie niemals besucht, Sie, die einst seinem Herzen so nahe stand und ihm ein unsterbliches Gefühl einzuflößen berufen war. Das ist sonderbar. Aber wenn man die Bande der Natur, des Blutes noch höher anschlagen will als Neigung und Dankbarkeit, so liegen Tatsachen vor, deren auffallendere Ungewöhnlichkeit Sie über das Erkältende der eigenen Erfahrung trösten mag. Es gibt da eine eigentümliche Unlust, es gibt schwer qualifizierbare Hemmnisse der Seele, die das menschlich Regelwidrige, ja Anstößige zeitigen. Wie hat er sich Zeit seines Lebens zu seinen Blutsverwandten verhalten? Er hat sich garnicht zu ihnen verhalten, hat sie, nach den Begriffen üblicher Pietät gesprochen, allezeit sträflich vernachlässigt. In Jugendtagen schon, als seine Eltern, {103} seine Schwester noch lebten, erschwerte eine Scheu, die man nicht zu beurteilen wagt, es ihm, sie aufzusuchen, ja ihnen zu schreiben. Von dem einzig am Leben gebliebenen Kind dieser Schwester, der armen Cornelia, hat er niemals Notiz genommen, er kennt es nicht. Noch weniger hat er Frankfurter Oheimen und Tanten, rechten Vettern und Basen je irgendwelche Beachtung geschenkt. Madame Melber, die greise Schwester seiner seligen Mutter, lebt dort mit ihrem Sohne, – es gibt keine Verbindung zwischen ihm und ihnen, außer man spreche ein kleines Kapital, das sie ihm von der Mutter her schulden, als solche an. Und diese Mutter selbst, das Mütterchen, von dem er die Frohnatur, die Lust zu fabulieren zu haben erklärt?« – Der Redende beugte sich weiter vor und senkte die Stimme noch tiefer, bei niedergeschlagenen Augen. – »Verehrteste Frau, als sie vor acht Jahren das Zeitliche segnete, (er kehrte eben von einem langen, erquicklichen Aufenthalt im Karlsbade in sein geschmücktes Haus zurück) hatte er sie elf Jahre nicht mehr gesehen. Elf Jahre nicht, ich spreche die Tatsache aus – der Mensch weiß wenig damit anzufangen. Er war hingenommen, er war aufs Tiefste erschüttert, wir sahen und wissen es alle und waren froh, daß Erfurt und die Begegnung mit Napoléon ihm wohltätig über den Choc hinweghalfen. Aber durch elf

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