Lourdes
Abordnungen der verschiedenen Pilgerzüge mit ihren Fahnen. Es waren mit Gold- und Silber- sowie mit Seidenstickerei und gemalten Figuren geschmückte Standarten aus Samt und Atlas, die Namen von Städten trugen: Versailles, Reims, Orleans, Poitiers, Toulouse. Eine, ganz weiß und von reicher Pracht, trug in roten Buchstaben die Inschrift: »Wohltätigkeitsanstalt der katholischen Arbeitervereine«. Dann kam der Zug des Klerus, zwei- bis dreihundert Priester in einfacher Soutane. Etwa hundert trugen das Chorhemd und einige fünfzig goldene, wie Gestirne glänzende Meßgewänder. Alle hielten brennende Kerzen in der Hand und sangen mit voller Stimme das Laudate Sion Salvatorem. In königlicher Pracht kam dann der Altarhimmel aus purpurfarbener, mit goldenen Tressen versehener Seide. Er wurde von vier Priestern getragen, die man augenscheinlich unter den Kräftigsten ausgesucht hatte. Unter dem Altarhimmel trug der Abbé Judaine, der zwischen zwei Hilfspriestern daher schritt, das heilige Sakrament mit allen zehn Fingern, wie Berthaud ihm dies anempfohlen hatte. Die etwas unruhigen Blicke, die er rechts und links auf die herandrängende Menge warf, zeigten, daß er in Sorge war, ob er diese schwere göttliche Monstranz, die ihm jetzt schon heftige Schmerzen an den Handgelenken verursachte, glücklich ans Ziel bringen würde. Wenn die Sonne sie mit einem schrägen Strahl auf der Vorderseite traf, hätte man glauben können, eine zweite Sonne zu sehen. Chorknaben schwangen Rauchgefäße im blendenden Staub des hellen Lichts, das die ganze Prozession zu einer glänzenden Pracht gestaltete. Hinterher kam schließlich nur noch ein verworrener Strom von Pilgern, ein Herdengetrampel von entflammten Gläubigen und Neugierigen, die sich herumstießen und wie die Fluten hinter einem Schiffe durcheinander wirbelten.
Seit einem Augenblick hatte Pater Massias die Kanzel wieder bestiegen, diesmal hatte er eine andere Übung ausgedacht. Nachdem er verzehrende Rufe des Glaubens, der Hoffnung und der Liebe ausgestoßen hatte, befahl er auf einmal, es sollten alle schweigen, damit jeder für sich, mit geschlossenen Lippen und im geheimen, zwei oder drei Minuten lang zu Gott sprechen könne. Diese augenblickliche Stille inmitten der großen Volksmasse, diese Minuten voll stummer Gelübde, während derer alle Seelen ihr geheimstes Innere öffneten, waren ergreifend und außerordentlich erhaben. Ihre Feierlichkeit hatte etwas Furchtbares an sich: man hörte den Flug der sehnsüchtigen Begierde, der unermeßlichen Sehnsucht nach dem Leben vorüberrauschen.
Hierauf lud Pater Massias die Kranken zum Sprechen ein. Sie sollten Gott inständig bitten, ihnen das zu gewähren, was sie von seiner Allmacht verlangten. Da fing ein jämmerliches Klagegeschrei an. Hunderte von meckernden und gebrochenen Stimmen erhoben sich zu einem schluchzenden Konzert. »Herr Jesus! Du kannst mich heilen, wenn du willst!... Herr Jesus! Hab Erbarmen mit deinem Kind, das vor Liebe stirbt!... Herr Jesus! Mache, daß ich sehe, mache, daß ich höre, mache, daß ich gehe!« Die durchdringende Stimme eines kleinen Mädchens übertönte, leicht und durchdringend wie Flötenklänge, das allgemeine Schluchzen, indem sie in der Ferne wiederholte: »Rette die anderen! Rette die anderen, Herr Jesus!« Tränen rannen aus allen Augen, denn diese flehenden Bitten rührten die Herzen und versetzten die härtesten in einen Taumel barmherziger Liebe, in eine erhabene Verwirrung, in der sie sich mit beiden Händen hätten die Brust öffnen mögen, um dem Nächsten die eigene Gesundheit und die eigene Jugend zu geben. Pater Massias ließ den Enthusiasmus nicht erkalten, sondern setzte seine Rufe fort, indem er die wahnwitzige Menge von neuem aufstachelte, während der Pater Fourcade auf einer Kanzelstufe stand, selber schluchzte und sein von Tränen überströmtes Gesicht zum Himmel erhob, um Gott zu befehlen, daß er herabsteige.
Nun aber kam die Prozession an. Die Abordnungen und die Priester hatten sich rechts und links in Reihen aufgestellt, und als der Altarhimmel in den für die Kranken vorbehaltenen abgesperrten Kreis vor der Grotte eintrat, und die letzteren das wie eine Sonne leuchtende heilige Sakrament, Jesum als Hostie, in den Händen des Abbé Judaine erblickten, da war keine Leitung mehr möglich: die Stimmen verwirrten sich und ein Schwindel riß alle Willenskräfte mit sich fort. Das Geschrei, die Anrufungen und Gebete gingen in Seufzern unter. Leiber erhoben sich
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