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Lourdes

Lourdes

Titel: Lourdes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emile Zola
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unrichtigen Diagnosen der zahlreichen Ärzte, die die Kranke behandelt hatten, ohne sich durchaus unerläßliche Besichtigung zu gestatten. Sie tappten deshalb im Finstern herum und die einen glaubten an eine Geschwulst, während die anderen, und zwar die meisten, von einer Verletzung des Marks überzeugt waren. Er allein hatte sich die Frage bezüglich einer erblichen Belastung der Kranken vorgelegt und vermutet, daß ein Zustand einfacher Autosuggestion vorliege, in dem sie sich unter der Erschütterung und der Heftigkeit des ersten Schmerzes starrsinnig erhalte. Er gab die Gründe für seine Vermutung an: das verengerte Gesichtsfeld, die stieren Augen, das in Gedanken verlorene und zerstreute Gesicht, vornehmlich aber die Natur des Leidens, das das Organ verlassen hatte, um sich gegen den linken Eierstock hinauf zu verziehen, wo es sich durch eine zermalmende, unerträgliche Last kundgab, die manchmal bis in den Hals emporstieg und dadurch entsetzliche Erstickungsanfälle verursachte. Nur der plötzliche feste Wille, sich von ihrer falschen Krankheitsvorstellung loszumachen, der Wille, aufzustehen, frei zu atmen und nicht mehr zu leiden, konnte sie wie unter dem Peitschenhieb einer großen Aufregung geheilt und verändert wieder auf die Füße bringen.
    Zum letztenmal versuchte Pierre, nichts mehr zu sehen und zu hören. Aber trotz seiner Anstrengungen, trotz seiner Inbrunst, die er in den Ruf legte: »Jesus, du Sohn Davids, heile unsere Kranken!« sah er immer nur Beauclair und hörte ihn mit seiner ruhigen, lächelnden Miene auseinandersetzen, wie das Wunder in Erfüllung gehen werde. Im Augenblick der höchsten seelischen Erregung würde es sie wie ein Blitzstrahl erfassen. Die Kranke würde sich im Entzücken eines Freudendeliriums erheben und gehen. Ihre Beine würden plötzlich leicht und frei von der übermäßigen Schwere, die sie so lange wie Beine aus Blei niedergehalten, die Schwere selbst wäre gleichsam hinweggeschmolzen und in die Erde geflossen. Namentlich aber die Last, die den Unterleib zerdrückte, von dort aufstieg, die Brust verwüstete und den Hals würgte, würde dann in einem wunderbaren Aufflug, wie von einem Sturmwind fortgerissen, entweichen und die ganze Krankheit mit hinwegnehmen. Gaben im Mittelalter die Besessenen nicht genau so durch den Mund den Teufel von sich, durch den ihr jungfräuliches Fleisch lange Zeit gequält worden war? Und Beauclair hatte noch hinzugefügt, Maria würde endlich zur Frau werden. In ihrem zurückgebliebenen, durch einen so langen Leidenstraum gebrochenen, kindlichen Leib würde, wenn er beim Hosiannaruf erwache, das Blut der Mutterschaft zu quellen beginnen, es werde ihm mit einemmal die strahlende Gesundheit wiedergegeben sein, so daß das Auge lebhaft schimmern und das Antlitz glänzen würde.
    Pierre betrachtete Marie, und als er sie so hinfällig in ihrem Wagen liegen sah, so ins tiefste Flehen versunken, während ihre Seele sich zu Unserer Lieben Frau von Lourdes emporschwang, die das Leben austeilte, da wurde seine Unruhe noch größer. Ach, daß sie doch gerettet würde, selbst um den Preis seiner eigenen Verdammnis! Aber sie war zu krank. Die Wissenschaft trog wie der Glaube, und er konnte nicht glauben, daß dieses Kind, dessen Beine seit so vielen Jahren erstorben waren, wieder aufleben sollte. Er verfiel in einen verwirrten Zweifel, und sein blutendes Herz schrie lauter, während es den unaufhörlichen Ruf der wahnwitzigen Menge wiederholte: »Herr! du Sohn Davids, heile unsere Kranken!« ... »Herr! du Sohn Davids, heile unsere Kranken!«
    In diesem Augenblick entstand ein Tumult und brachte die Köpfe in Bewegung. Die Leute zitterten, die Gesichter kehrten sich alle der gleichen Richtung zu und streckten sich in die Höhe. Die an diesem Tag ein wenig verspätete Vieruhr-Prozession, deren Kreuz aus einem Bogengewölbe der monumentalen Rampe hervortrat, nahm ihren Anfang. Es entstand ein solches Freudengeschrei, ein so ungestümes Drängen, daß Berthaud den Sänftenträgern befahl, die Leute dadurch zurückzutreiben, daß sie kräftig an den Seilen zögen. Die Sänftenträger wurden einen Augenblick mit fortgerissen und mußten sich fest nach hinten lehnen. Endlich konnten sie den freigehaltenen Weg ein wenig erweitern und die Prozession konnte sich nun langsam vorwärts wagen. An ihrer Spitze schritt ein prächtiger, in Blau mit Silber gekleideter Schweizer, der das hohe, wie ein Stern strahlende Prozessionskreuz begleitete. Dann kamen die

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