Lourdes
bekehren. Eilig schickte er Elise Rouquet fort, fragte nach dem Namen der Neuangekommenen und erbat von einem der jungen Priester deren Akten. Dann wollte er sie, da sie taumelte, in den Armstuhl niedersetzen.
»Nein, nein!« rief sie; »ich bin so glücklich, mich meiner Beine bedienen zu können!«
Pierre hatte Doktor Chassaigne mit den Blicken gesucht und war tief betrübt, ihn nicht hier zu finden. Er hielt sich abseits und wartete auf ihn, während die in Unordnung befindlichen Schubladen nach dem Aktenheft durchwühlt wurden, ohne daß man die Hand darauf legen konnte.
»Wartet einmal«, wiederholte Doktor Bonamy, »Marie von Guersaint ... Marie von Guersaint ... Ich habe diesen Namen sicher irgendwo gesehen.«
Raboin entdeckte schließlich das unter einem falschen Buchstaben des Alphabets abgelegte Aktenheft. Als der Doktor Kenntnis von den zwei Zeugnissen genommen hatte, die es enthielt, geriet er in Eifer.
»Das, meine Herren«, rief er, »ist nun sehr interessant. Ich bitte Sie, aufmerksam zuzuhören ... Das Fräulein, das Sie hier aufrecht stehen sehen, litt an einer sehr schweren Verletzung des Rückenmarks. Hätte jemand den geringsten Zweifel darüber, so würden diese zwei Zeugnisse genügen, auch die Ungläubigsten zu überzeugen, denn sie sind von zwei Ärzten der Pariser Fakultät unterzeichnet, deren Namen allen unseren Kollegen bekannt sind.«
Er ließ die Zeugnisse den anwesenden Ärzten einhändigen, die sie mit leichtem Kopfnicken lasen. Da gab es nichts abzuleugnen, die Unterzeichner besaßen den Ruf von ehrenhaften und gewandten Praktikern. »Nun gut, meine Herren, wenn die Diagnose nicht bestritten wird – und sie kann nicht bestritten werden, sobald uns eine Kranke Urkunden von solchem Wert herbeibringt –, dann werden wir jetzt prüfen, welche Änderungen sich im Zustand des Fräuleins vollzogen haben.«
Aber er besann sich und richtete, ehe er die Geheilte befragte, das Wort an Pierre:
»Herr Abbé«, sagte er, »Sie sind, wie ich glaube, mit Fräulein von Guersaint von Paris hierhergekommen. Haben Sie vor der Abreise mit den Ärzten gesprochen?«
»Ich habe der Beratung beigewohnt.«
Und die Szene tauchte wiederum vor ihm auf. Er sah die zwei ernsten und verständigen Ärzte wieder und erblickte auch Beauclair, der lächelte, während seine Kollegen ihre gleichlautenden Zeugnisse verfaßten. Sollte er sie entwerten, indem er die andere Diagnose bekanntgab, die die Heilung auf wissenschaftlichem Wege zu erklären gestattete? Das Wunder war vorhergesagt und dadurch im voraus zerstört worden.
»Sie werden bemerken, meine Herren«, fuhr Doktor Bonamy fort, »daß die Anwesenheit des Herrn Abbé diesen Urkunden eine neue Beweiskraft verleiht ... Das Fräulein wird uns nun recht genau sagen, was es empfunden hat.«
Er beugte sich über die Schulter des Pater Dargelès und empfahl ihm, nicht zu vergessen, daß er Pierre in der Erklärung eine Zeugenrolle anweise.
»Mein Gott! Wie soll ich Ihnen das sagen, meine Herren?« rief Marie außer Atem, mit vor Glück erstickter Stimme. »Ich hatte seit gestern die Gewißheit, daß ich geheilt würde. Trotzdem fürchtete ich noch in dieser Stunde, als meine Beine von einem Prickeln ergriffen wurden, es möchte eine neue Krise eintreten. Ich zweifelte einen Augenblick ... da hörte das Prickeln auf. Sobald ich mich wieder ins Gebet versenkt hatte, begann es aufs neue ... Oh, ich betete und betete von ganzer Seele! Ich gab mich schließlich hin wie ein Kind. ›Heilige Jungfrau! Unsere Liebe Frau von Lourdes, mach mit mir, was du willst!‹ ... Das Prickeln ließ nicht mehr nach, mein Blut schien zu kochen, und eine Stimme rief mir zu: ›Steh auf! Steh auf!‹ Ich empfand das Wunder in einem lauten Krachen aller meiner Knochen an meinem Körper, wie wenn ich vom Blitz getroffen worden wäre.«
Pierre hörte ganz blaß zu. Beauclair hatte ihm deutlich gesagt, daß die Heilung wie ein Blitzstrahl eintreten würde, wenn unter dem wirksamen Einfluß der überreizten Einbildungskraft ein jähes Erwachen des seit so langer Zeit eingeschläferten Willens sich in ihr vollzöge.
»Zuerst hat die Heilige Jungfrau meine Beine von ihren Fesseln befreit«, fuhr sie fort. »Ich hatte die ganz deutliche Empfindung, daß die eisernen Bande, die sie umschlangen, längs der Haut hinabglitten gleich zerbrochenen Ketten ... Dann stieg die Last, die mich da, in der linken Seite, stets bis zum Ersticken beklemmte, in die Höhe und sie drückte mich derart,
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