Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Lourdes

Lourdes

Titel: Lourdes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emile Zola
Vom Netzwerk:
hatte keine bösen Gedanken, widerstandslos hegte auch er den glühenden Wunsch, zusammen mit Marie geheilt zu werden. Oh, daß er doch durch ihre Heilung überzeugt würde! Daß sie doch miteinander glauben könnten, miteinander gerettet würden! Er wollte beten wie sie, mit Inbrunst. Aber gegen seinen Willen beschäftigte seinen Geist die Volksmenge, diese endlose Masse, in der es ihn so viel Mühe kostete, sich aufzulösen, zu verschwinden und nur noch ein Blatt im Walde zu sein, das sich im Zittern aller Blätter verliert. Er konnte sich nicht enthalten, die Menge zu erforschen und zu beurteilen. Er wußte, daß sie seit vier Tagen willenlos fortgerissen wurde und unter dem Einfluß einer Suggestion stand: das Fieber der langen Reise, die durch den Anblick fremder Landschaften bewirkte Erregung, die vor der lodernden Grotte verlebten Tage, die schlaflosen Nächte und der erbitterte, nach Täuschung gierige Schmerz hatten diesen Bann hervorgerufen. Dazu kamen noch der Eindruck der beständigen Gebete, die Gesänge und die Litaneien, die sie ohne Unterlaß erschütterten. Auf den Pater Massias war ein anderer Priester gefolgt, und dieser kleine, magere und schwarze Mönch stieß Rufe zur Jungfrau und zu Jesus mit einer gleich Peitschenhieben einschneidenden Stimme aus, während Pater Massias und Pater Fourcade am Fuß der Kanzel stehenblieben und die Rufe der Menge leiteten, deren Wehklage im hellen Sonnenschein sich immer lauter erhob. Die Aufregung war noch gewachsen,, und die Stunde war herangekommen, zu der die dem Himmel angetane Gewalt die Wunder herbeiführte.
    Auf einmal erhob sich eine Lahme und schritt, indem sie ihre Krücke in die Luft emporhielt, der Grotte zu! Diese gleich einer Fahne geschwenkte Krücke entlockte den Gläubigen Freudenrufe. Man lauerte auf die Wunder, man erwartete sie mit der Gewißheit, daß sie sich zahllos und in aufsehenerregender Weise vollziehen würden. Die Augen glaubten sie zu sehen, und fieberhaft erregte Stimmen kündigten sie an. Da war wieder eine geheilt! Und da noch eine! Und immer wieder eine andere! Eine Taube hörte, eine Stumme sprach wieder, eine Schwindsüchtige lebte wieder auf! Wie, eine Schwindsüchtige? Gewiß, das war ja etwas Alltägliches! Es war keine Überraschung mehr möglich. Ohne jemand in Erstaunen zu versetzen, hätte man erklären können, daß ein abgeschnittenes Bein wieder gewachsen sei. Das Wunder wurde zu etwas ganz Natürlichem, zu einem gewöhnlichen, und weil es sich so allgemein vollzog, zu einem abgedroschenen und bedeutungslosen Ding. Leuten von so überhitzter Einbildungskraft erschienen nach all dem, was sie von der Heiligen Jungfrau erwarteten, die unglaublichsten Geschichten ganz einfach. Man mußte die umlaufenden Geschichten, die mit unbedingter Gewißheit gegebenen, ruhigen Bestätigungen hören, sobald eine wahnwitzige Kranke schrie, daß sie geheilt sei. Wieder eine! Und noch eine! Jedoch erhob sich manchmal auch eine trostlose Stimme zu dem Ausruf: »Ach, die da ist geheilt! Die hat Glück!«
    Pierre hatte schon im Büro der Beurkundungen unter der Leichtgläubigkeit der dort Anwesenden gelitten. Was aber hier sich abspielte, das ging über alles hinaus. Er geriet außer sich über die Ungereimtheiten, die er hörte und die so ruhig mit hellem, kindlichen Lächeln vorgetragen wurden. Deshalb versuchte er auch, auf andere Gedanken zu kommen und auf nichts mehr zu hören. »Mein Gott, laß doch meine Vernunft zunichte werden, ertöte in mir den Wunsch nach Erkenntnis und mache, daß das Unwahre und Unmögliche mir als wirklich und möglich erscheint!« Einen Augenblick meinte er, das Verlangen nach einer gründlichen Untersuchung dessen, was vorging, sei in ihm erstorben, und darum ließ auch er sich vom flehenden Ruf mit fortreißen: »Herr, heile unsere Kranken! ... Herr, heile unsere Kranken!« Er wiederholte ihn mit all seiner barmherzigen Liebe, er faltete die Hände und heftete die Blicke auf die Statue der Jungfrau, bis ihn ein Schwindel erfaßte und er sich einbildete, sie bewege sich. Warum sollte er denn nicht wieder zum Kind werden gleich den anderen, da doch das Glück in der Unwissenheit und im Trug besteht? Die Ansteckung würde wohl endlich wirken, und dann wäre auch er nur ein Sandkorn unter den Sandkörnern, ein Niedriger unter den Niedrigen, ohne sich um die Kräfte zu kümmern, die den Mühlstein in Bewegung setzen, der sie zerquetscht. Aber gerade in dieser Sekunde, da er hoffte, den alten Menschen in sich

Weitere Kostenlose Bücher