Lourdes
getötet und sich selbst mit seinem Willen und seiner Vernunft vernichtet zu haben – gerade in dieser Sekunde begann in der Tiefe seines Gehirns wieder die heimliche, unaufhörliche, unüberwindliche Gedankenarbeit. Nach und nach kehrte er trotz seiner Bemühungen zur Untersuchung dessen zurück, was vorging: er zweifelte und forschte. Welche unbekannte Kraft entwickelte sich aus dieser Menschenmenge und wurde zu einem genügend starken Lebensfluidum, um die verschiedenen Heilungsfälle, die sich tatsächlich vollzogen, zu bewirken? Man stand hier vor einer Erscheinung, die noch kein Gelehrter studiert hatte. Sollte man glauben, daß eine Menschenmenge zu einem einzigen Wesen wurde, das auf sich selbst die verzehnfachte Gewalt der Autosuggestion einwirken lassen konnte? Oder durfte man annehmen, daß eine Volksmenge in gewissen Fällen von höchster Schwärmerei zum Träger eines außergewöhnlichen Willens wurde und so die Materie zum Gehorsam zwang? Das wäre eine Erklärung dafür gewesen, daß die Fälle einer plötzlichen Heilung im Schoße der Menge gerade bei den Personen eintraten, die sich am aufrichtigsten ihrer seelischen Überspanntheit hingaben. Der Atem aller verband sich zu einem einzigen Atem, und die wirkende Kraft war eine Kraft des Trostes, der Hoffnung und des Lebens.
Dieser von barmherziger Liebe eingegebene Gedanke bewegte das Gemüt Pierres. Er konnte sich einen Augenblick wieder fassen und betete für die Genesung aller, ganz gerührt in dem Glauben, daß er damit ein wenig an Mariens Heilung mitarbeite. Aber plötzlich stieg eine Erinnerung in ihm auf, die Erinnerung an die ärztliche Beratung, die er vor der Abreise nach Lourdes über den Fall des jungen Mädchens gefordert hatte. Die Szene stellte sich genau und mit außerordentlicher Schärfe vor sein geistiges Auge. Er sah das Zimmer wieder mit den grauen, weiß geblümten Tapeten und hörte die drei Ärzte den Fall erörtern und entscheiden. Die zwei, die Zeugnisse ausgestellt und Rückenmarkslähmung festgestellt hatten, sprachen mit der verständigen Langsamkeit bekannter und geachteter Praktiker von vollkommener Ehrenhaftigkeit, während ihm noch die lebhaften und warmen Worte seines entfernten Vetters Beauclair im Ohre nachklangen. Dieser, ein junger Mann von weit ausschauendem, kühnen Verstand, war als dritter Arzt anwesend, und seine Kollegen behandelten ihn kühl, als abenteuerlichen Geist. Pierre war überrascht, jetzt in der letzten Minute in seinem Gedächtnis Dinge wiederzufinden, von denen er nicht wußte, daß sie sich dort befanden, und zwar infolge der eigentümlichen Erscheinung, daß kaum gehörte, schlecht verstandene und gleichsam gegen den eigenen Willen aufgespeicherte Worte nach langer Vergessenheit wieder erwachen, hervorbrechen und sich dem Geist aufdrängen. Es schien ihm, als ob das Näherrücken des Wunders die Bedingungen schaffe, unter denen es sich, wie ihm Beauclair angekündigt hatte, erfüllen würde.
Vergeblich mühte sich Pierre ab, diese Erinnerung dadurch zu verscheuchen, daß er mit verdoppeltem Eifer betete. Die Bilder entstanden aufs neue, die ehemals gehörten Worte erklangen wieder. Im Speisesaal war es, in dem Beauclair und er sich nach dem Weggang der zwei anderen Ärzte eingeschlossen hatten. Da entwarf ihm Beauclair die Geschichte der Krankheit: der Fall vom Pferd im Alter von vierzehn Jahren; eine dadurch herbeigeführte Verrenkung des erschütterten und auf die Seite geworfenen Organs; ohne Zweifel waren auch die Bänder zerrissen, daher die Schwere im Unterleib und in den Hüften, und die bis zur Lähmung gehende Schwäche der Beine. Dann sei eine langsame Wiederherstellung des Schadens eingetreten, indem das Organ seinen bestimmten Platz von selbst wieder einnahm, und die Risse der Bänder vernarbten. Die schmerzhaften Erscheinungen hätten aber bei dem großen nervösen Kind nicht verschwinden können, da das Gehirn sich nicht ohne weiteres von der Erinnerung zu befreien vermochte. Die Aufmerksamkeit der Kranken blieb auf den Punkt beschränkt, an dem sie litt, und dadurch wurde sie unbeweglich und unfähig, neue Vorstellungen zu erwerben. Auf diese Weise kam es, daß das Leiden selbst nach der eingetretenen Heilung noch fortbestand. Es war das ein neuropathischer Zustand und eine sich unmittelbar aus ihm ergebende nervöse Erschöpfung, die zweifellos durch noch wenig bekannte Vorfälle in der Ernährung verschlimmert wurde. Auch erklärte ihm Beauclair leicht die gegenteiligen und
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