Lourdes
in allem war dieses Panorama von Gavarnie doch etwas Riesenhaftes. Nur verlor man aus der Ferne das Gefühl der Ausmaße, da erschien es klein. Die drei mit Schnee bedeckten Riesenstufen, der obere Grat, der sich wie das Profil einer Riesenfestung vom Himmel abhob, mit dem geschleiften Hauptturm und den ausgezackten Wällen, der große Wasserfall, dessen endloser Strom so langsam erschien, während er in Wirklichkeit mit der Gewalt des Donners herniederfallen mußte, die ganze Unendlichkeit, die Wälder rechts und links, die Sturzbäche, die Bergstürze machten, wenn man sie vom Dorfe aus betrachtete, den Eindruck, als könne man sie in der hohlen Hand halten. Was ihn aber am meisten betroffen hatte und wovon er unaufhörlich wieder sprach, das waren die seltsamen Figuren, die der Schnee, der oben zwischen den Felsen geblieben war, bildete: unter anderem ein riesiges Kruzifix, ein weißes Kreuz von mehreren tausend Metern, das den Eindruck machte, als sei es von einem Ende zum andern quer durch den Raum geworfen worden.
Er unterbrach sich und sagte:
»Übrigens, was geht denn bei unseren Nachbarn vor? Als ich eben heraufkam, begegnete ich Herrn Vigneron, der wie ein Wahnsinniger davonlief. Und durch die halb geöffnete Tür ihres Zimmers glaubte ich Frau Vigneron zu bemerken, die ganz rot aussah. Hat ihr Sohn Gustave wieder einen Anfall gehabt?«
Pierre hatte Frau Chaise vergessen, die Tote, die dort auf der andern Seite der Wand schlief. Er glaubte einen leisen, kalten Schauer zu fühlen.
»Nein, nein, das Kind befindet sich wohl ...«
Aber er fuhr nicht fort, er zog es vor, zu schweigen. Wozu diese glückliche Stunde der Genesung, der wiedereroberten Jugend dadurch vergällen, daß er das Bild des Todes damit verwob ? Er aber hörte von dieser Minute an nicht mehr auf, an die Nachbarschaft des Todes zu denken. Dann dachte er auch an das andere Zimmer, in dem der all einreisende Herr sein Schluchzen unterdrückte und die Lippen auf ein Paar Handschuhe preßte, die er seiner Geliebten entwendet hatte.
Das ganze Hotel kehrte zurück mit seinen Hustenanfällen, seinen Seufzern, seinen undeutlichen Stimmen, dem fortwährenden Zuschlagen der Türen, den unter dem Zusammendrängen der Reisenden krachenden Zimmern, den von dem Rennen der Familien, die jetzt in der Hast der Abreise in Aufregung gerieten, gefegten Korridoren.
»Auf Ehrenwort, du wirst dir noch den Magen verderben«, rief Herr von Guersaint lachend, als er sah, daß seine Tochter wieder ein Brötchen nahm.
Auch Marie wurde lustig, dann aber sagte sie, während plötzlich zwei Tränen in ihren Augen aufstiegen:
»Oh, wie glücklich ich bin, und wie weh es mir tut, wenn ich daran denke, daß nicht die ganze Welt so glücklich ist wie ich!«
II
Es war acht Uhr, Marie hielt es vor Ungeduld in ihrem Zimmer nicht mehr aus, sondern kehrte unaufhörlich wieder ans Fenster zurück, als wenn sie mit einem Atemzuge den ganzen freien Raum, den ganzen weiten Himmel in sich hineintrinken wollte. Ach, welche Wonne, so durch die Straßen, über die Plätze zu laufen, da und dort und immer wieder wo anders hin zu gehen, so weit fort, wie ihr Verlangen sie tragen würde! Und dabei zu beweisen, wie stark sie war, der Eitelkeit nachzugeben, vor der Welt meilenweite Wege zu machen, jetzt, da die Heilige Jungfrau sie geheilt hatte! Es war ein unwiderstehliches Streben, ein Aufflug ihres ganzen Wesens, ihres Blutes, ihres Herzens.
Aber im Augenblick des Aufbruchs entschied sie sich doch dafür, daß ihr erster Besuch mit ihrem Vater der Grotte gelten sollte, in der sie alle beide Unserer Lieben Frau von Lourdes zu danken hatten. Dann würde man frei sein, zwei lange Stunden vor sich haben und spazierengehen können, wohin man wollte, bevor man zum Frühstück ins Hospital zurückkehrte und dort sein kleines Bündel schnürte.
»Nun, sind wir so weit?« wiederholte Herr von Guersaint, »gehen wir?«
Pierre nahm seinen Hut, und alle drei gingen unter lautem Sprechen und Lachen und mit der Fröhlichkeit von Schülern, die in die Ferien ziehen, die Treppe hinunter. Sie hatten bereits die Straße erreicht, als Frau Majesté unter dem Torweg hervorgestürzt kam. Sie mußte wohl auf ihren Ausgang gewartet haben.
»Gnädiges Fräulein, meine Herren, gestatten Sie mir, daß ich Ihnen meinen Glückwunsch darbringe. Wir haben von der außerordentlichen Gnade gehört, die Ihnen widerfahren ist. Wir sind so glücklich, so geschmeichelt, daß die Heilige Jungfrau einen unserer
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