Lourdes
Allmacht, die unbesiegliche Willenskraft des wirkenden Lebens. Die Liebe war stärker als der Glaube, vielleicht gab es nichts Göttliches außer dem Besitz eines liebenden Wesens. Sich lieben, sich trotz allem und allem anzugehören, Leben zu geben und Leben fortzupflanzen, war das nicht das einzige Ziel der Natur, das außer dem Bereiche der sozialen und religiösen Ordnung lag? Einen Augenblick kam ihm der tiefe Abgrund zum Bewußtsein: seine Keuschheit war sein letzter Halt, gab allein seiner verfehlten Existenz als ungläubigem Priester Würde. Er erkannte, daß er verloren sei, wenn er seinem Fleische nachgab, nachdem er schon seinem Verstande nachgegeben hatte. Sein ganzer Stolz auf seine Reinheit, seine ganze Kraft, die er an die Ehrenhaftigkeit seines Berufes gewandt hatte, kehrte zu ihm zurück, und er schwor sich von neuem, kein Mann zu sein, da er sich ja freiwillig aus dem Kreis der Männer verbannt hatte. Es schlug sieben Uhr. Pierre legte sich nicht nieder, sondern wusch sich mit eiskaltem Wasser, ganz glücklich über dieses frische Wasser, das sein Fieber beruhigte. Als er sich fertig angezogen hatte, erwachte bei dem Geräusch von Schritten, das er auf dem Korridor vernahm, wieder der ängstliche Gedanke an Herrn von Guersaint in ihm. Man blieb vor seiner Tür stehen und klopfte, und erleichtert ging er öffnen.
Dann aber stieß er einen Schrei lebhafter Überraschung aus.
»Wie, Sie sind's! Sie sind schon aufgestanden, laufen durch die Straßen und steigen zu den Leuten hinauf?«
Mit lächelndem Antlitz stand Marie auf der Schwelle, und hinter ihr lächelte Schwester Hyacinthe, die sie begleitete, ebenfalls mit ihren hübschen, treuherzigen Augen.
»Ach, lieber Freund«, sagte das junge Mädchen, »ich habe nicht liegenbleiben können. Sobald ich die Sonne gesehen habe, bin ich aus dem Bett gesprungen, ein solches Bedürfnis empfand ich, zu gehen, zu laufen und herum zu springen wie ein kleines Mädchen. Und ich habe so lange gebettelt, bis die Schwester so liebenswürdig war, mit mir auszugehen. Ich glaube, ich wäre aus dem Fenster gesprungen, wenn man die Tür verschlossen hätte.«
Pierre hatte sie eintreten lassen, und eine namenlose Aufregung schnürte ihm die Kehle zu, als er sie heiter scherzen hörte, als er sah, wie sie sich ungehindert und graziös bewegte. Seitdem er sie am vorigen Tage in der Basilika verlassen hatte, war sie in Jugend und Schönheit erblüht. Eine Nacht hatte genügt, um sie so zu verändern, daß er sie groß und blühend wiederfand.
»Wie groß, wie schön Sie jetzt sind, Marie!« konnte er sich nicht enthalten zu sagen.
Nun trat Schwester Hyacinthe dazwischen.
»Nicht wahr, Herr Abbé, die Heilige Jungfrau hat alles wohlgetan! Ja, sehen Sie, wenn sie sich mit einer Sache beschäftigt, so geht man aus ihren Händen frisch und duftend wie eine Rose hervor.«
»Ach«, fuhr das junge Mädchen fort, »ich bin so glücklich, ich fühle mich ganz stark, ganz gesund, ganz frisch, als wäre ich neugeboren.«
Das war ein köstliches Gefühl für Pierre. Es schien ihm, als wenn nun der letzte Duft der Frau Volmar verflog. Marie erfüllte das Zimmer mit ihrer Reinheit, dem Duft und Glanz ihrer unschuldigen Jugend. Und doch machte sich diese Freude der reinen Schönheit, des wiederaufblühenden Lebens nicht geltend, ohne daß er eine tiefe Traurigkeit empfand. Im Grunde mußte die Empörung, die ihn in der Krypta überkommen hatte, die Erkenntnis seines verfehlten Lebens, sein Herz auf ewig verwunden. Das angebetete Weib, das in seiner vollen Blüte wiedergeboren wurde! Und doch würde er nie den Besitz kennenlernen, denn er stand außerhalb der Welt, dem Grabe geweiht. Aber er schluchzte nicht mehr, es überkam ihn eine grenzenlose Schwermut, ein Gefühl des unendlichen Nichts, wenn er sich sagte, daß er tot war, daß diese Neugeburt des Weibes sich über dem Grabe erhob, in dem seine Mannbarkeit schlief. Es war die Entsagung, die er in der trostlosen Größe der außerhalb der Natur stehenden Existenzen auf sich genommen und selber gewünscht hatte.
Wie die andere, die leidenschaftliche Frau, hatte auch Marie Pierres Hände ergriffen. Aber ihre kleinen Hände waren frisch, sanft, beruhigend! Sie blickte ihn verwirrt an und hatte einen großen Wunsch, den sie nicht auszusprechen wagte. Dann sagte sie tapfer:
»Pierre, wollen Sie mich umarmen? Das würde mich sehr glücklich machen.«
Er zitterte, das Herz von einer letzten Qual zerrissen. Ach, die Küsse von
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