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Lourdes

Lourdes

Titel: Lourdes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emile Zola
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anderen würde sie angehören. Paris würde sie ihm nehmen, wenn Lourdes sie ihm zurückgab. Und er stellte sich dieses unwissende Kind vor, wie es unvermeidlich seine Erziehung als Frau vollendete. Die kleine weiße Seele, die bei dem großen Mädchen von dreiundzwanzig Jahren unberührt geblieben war, würde jetzt sehr schnell heranreifen. Er sah das junge Mädchen lachend, gesund, wie sie überall herumlief, alles betrachtete und lernte und eines Tages dem Gatten begegnete, der ihre Erziehung vollenden würde.
    »Sie nehmen sich also vor, sich in Paris zu amüsieren?«
    »Ich, mein Freund? Oh, was sagen Sie da ... Sind wir reich genug, um uns zu amüsieren? Nein, ich dachte an meine arme Schwester Blanche und fragte mich, was ich wohl in Paris tun könnte, um ihr das Leben ein wenig zu erleichtern. Sie ist so gut, sie macht sich so viel Mühe, und ich will nicht, daß sie allein das ganze Geld verdient.«
    Und nach einer neuen Pause, als er tiefbewegt schwieg, fuhr sie fort:
    »Früher, bevor ich allzu stark litt, zeichnete ich ziemlich gut Miniaturbilder. Sie erinnern sich, ich habe ein Bild von Papa gemacht, das alle Welt sehr hübsch fand ... Nicht wahr, Sie werden mir helfen und mir Aufträge verschaffen?«
    Dann sprach sie von dem neuen Leben, das sie führen wollte. Sie wollte ihr Zimmer einrichten und es von ihren ersten Ersparnissen mit einem Kretonnestoff mit kleinen blauen Blumen tapezieren lassen. Blanche hatte ihr von den Warenhäusern erzählt, in denen man alles billig kauft.
    Es mußte so amüsant sein, mit Blanche auszugehen, ein wenig herumzulaufen, denn sie kannte ja nichts und hatte, seit ihrer Kindheit an ihr Bett gefesselt, nie etwas gesehen. Pierre, der sich einen Augenblick beruhigt hatte, litt von neuem, als er dieses glühende Verlangen zu leben bei ihr erkannte, diesen Eifer, alles zu sehen, alles kennenzulernen und alles zu kosten. Das war endlich das Erwachen der Frau, die sie werden mußte, die er früher geahnt und im Kinde angebetet hatte, ein Geschöpf der Fröhlichkeit und Leidenschaft, mit seinem blühenden Munde, seinen Sternenaugen und seinem milchweißen Teint.
    »Oh, ich werde arbeiten und dann – Sie haben recht, Pierre – werde ich mich amüsieren, weil es doch nichts Böses ist, nicht wahr, fröhlich zu sein?«
    »Nein, nein, gewiß nicht, Marie.«
    »Sonntags werden wir aufs Land gehen, oh, sehr weit hinaus, in die Wälder, wo es schöne Bäume gibt... auch ins Theater gehen, wenn uns Papa dahin führt. Man hat mir gesagt, daß es viele Stücke gibt, die man hören kann... Aber das ist noch nicht alles. Wenn ich nur ausgehe, durch die Straßen gehe und die Dinge sehe, werde ich glücklich sein und heiter nach Hause zurückkehren... Es ist ja so schön zu leben, nicht wahr, Pierre?«
    »Ja, ja, Marie, es ist sehr schön.«
    Eine leichte Todeskälte überfiel ihn, er kämpfte mit dem Bedauern, kein Mann mehr zu sein. Warum versuchte sie ihn in dieser Weise mit ihrer verletzenden Arglosigkeit, warum sagte er ihr nicht die Wahrheit, die ihn vernichtete! Er hätte sie genommen, er hätte sie erobert. Nie hatte sich ein schrecklicherer Kampf in seinem Herzen und in seinem Willen abgespielt. Einen Augenblick war er im Begriff, die nie wieder gutzumachenden Worte auszusprechen.
    Aber schon fuhr sie mit ihrer fröhlichen Kinderstimme fort:
    »Oh, sehen Sie doch den armen Papa, wie zufrieden er ist, so fest zu schlafen.«
    In der Tat schlief Herr von Guersaint ihnen gegenüber auf der Bank, mit glücklicher Miene wie in seinem Bett, ohne das Bewußtsein des beständigen Schüttelns zu haben. Dieses eintönige Schwanken und Stampfen schien übrigens nur noch ein Wiegen zu sein, das den Schlummer des ganzen Wagens vertiefte. Es war die vollständige Hingabe, die Vernichtung der Körper, inmitten der Unordnung der Gepäckstücke, die gleichsam unter dem rauchigen Lichte der Lampen ebenfalls eingeschläfert worden waren. Und das rhythmische Rasseln der Räder hörte nicht auf in dem unbekannten Schattendunkel, das der Zug noch immer durchbrauste. Nur manchmal, vor einem Bahnhof, auf einer Brücke, verlangsamte sich der Wirbelwind der Fahrt, und es blies plötzlich ein heftiger Sturm. Dann begann das einförmige, einlullende Gerassel von neuem.
    Marie ergriff sanft Pierres Hand. Sie waren so verloren, so allein unter dieser ganzen schlafenden Gesellschaft, in diesem tiefen, donnernden Frieden des von Nacht umhüllten Zuges. Die Traurigkeit, die sie bis dahin verheimlicht hatte,

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