Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Lourdes

Lourdes

Titel: Lourdes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emile Zola
Vom Netzwerk:
gefestigt, und er weinte nicht, weil er den Glauben verloren hatte, er weinte, weil er sie verlor. Aber ein unbesiegliches Mitleid überkam ihn in seinem großen Kummer. Nein, nein, er würde den Frieden dieser Seele nicht stören, er würde ihr ihren Glauben nicht rauben, der vielleicht eines Tages in den Schmerzen dieser Welt ihr einziger Halt sein könnte. Noch kann man weder von den Kindern noch von den Frauen den bitteren Heroismus des Verstandes verlangen. Er fühlte, daß er nicht die Kraft, er glaubte, daß er nicht einmal das Recht dazu habe. Das wäre ihm wie ein Raub, wie ein abscheulicher Mord erschienen. Und er sprach nicht, seine Tränen flössen glühender in diesem Opfer seiner Liebe, der verzweifelten Weihe seines Glücks, das er darbrachte, damit sie arglos, unwissend und fröhlich bliebe.
    »Marie, wie unglücklich bin ich! Es gibt auf den Landstraßen, es gibt in den Zuchthäusern keine Unglücklichen, die unglücklicher sind als ich! Marie, wenn Sie wüßten, wenn Sie wüßten, wie unglücklich ich bin!«
    Sie war außer sich, preßte ihn in ihre zitternden Arme und wollte ihn in schwesterlicher Umschlingung trösten. In diesem Augenblicke erriet das Weib, das in ihr erwachte, alles, und auch sie schluchzte über alle menschlichen und göttlichen Willenskräfte, die sie trennten. Noch hatte sie nie an diese Dinge gedacht, aber plötzlich sah sie das Leben mit seinen Leidenschaften, seinen Kämpfen, seinen Qualen. Und sie suchte nach Worten, um dies blutende Herz ein wenig zu beruhigen, und stammelte ganz leise, tiefbetrübt, daß sie nichts fand, das zärtlich genug klang:
    »Ich weiß, ich weiß.«
    Dann fand sie das Wort. Aber wie wenn das, was sie zu sagen hatte, nur von Engeln gehört werden durfte, wurde sie unruhig und blickte sich im Wagen um. Der Schlummer schien hier noch drückender geworden zu sein, ihr Vater schlief noch immer mit der Unschuld eines großen Kindes. Keiner der Pilger, keiner der Kranken hatte sich in dem rauhen Schütteln, das sie dahintrug, gerührt. Selbst Schwester Hyacinthe hatte, der drückenden Ermüdung nachgebend, die Augen geschlossen, nachdem sie ebenfalls die Kappe über die Lampe ihres Abteils gezogen hatte. Es wogte nur noch ein unklarer Schatten, undeutliche Körper unter namenlosen, kaum wahrnehmbaren Gegenständen, die ein Sturm, eine wütende Flucht ohne Ende durch die Schatten dahinpeitschte. Und sie mißtraute auch dieser schwarzen Landschaft, deren unbekannte Fläche an den beiden Seiten des Zuges vorübersauste, ohne daß man wissen konnte, welche Wälder, welche Ströme, welche Hügel man durchfuhr. Soeben waren lebhafte Strahlen erschienen, vielleicht ferne Schmiedewerkstätten, traurige Lampen von Arbeitern oder Kranken. Aber von neuem umfloß sie tiefe Nacht, ein dunkles, unendliches, unbekanntes Meer, auf dem man immer weiter vordrang und sich doch überall und nirgends befand.
    Nun legte Marie, unter ihren Tränen errötend, ihre Lippen an das Ohr Pierres:
    »Hören Sie mich, liebster Freund... Es besteht ein großes Geheimnis zwischen der Heiligen Jungfrau und mir... Ich hatte ihr geschworen, es niemand zu sagen, aber Sie sind zu unglücklich, Sie leiden zu sehr, und sie wird mir verzeihen, ich will es Ihnen daher anvertrauen.«
    Dann hauchte sie:
    »Während der Nacht der Andacht, Sie wissen, in der Nacht glühender Ekstase, die ich vor der Grotte zubrachte, habe ich mich durch ein Gelübde verpflichtet und der Heiligen Jungfrau versprochen, ihr das Opfer meiner Jungfräulichkeit zu bringen, wenn sie mich heilte. Sie hat mich geheilt, und niemals, hören Sie wohl, Pierre, niemals werde ich jemanden heiraten.«
    Welch unerwartetes Glück! Er glaubte, Tau fiele auf sein armes, gemartertes Herz. Das war ein göttliches Zaubermittel, eine köstliche Erleichterung. Wenn sie keinem andern angehörte, so würde sie doch stets ein wenig ihm angehören. Wie sie sein Leiden begriffen hatte, und wie sie die Worte fand, die sie sagen mußte, um ihm sein Dasein erträglich zu machen!
    Auch er wollte nun glückliche Worte finden, ihr danken und versprechen, daß auch er auf ewig nur ihr angehören wolle, daß er sie lieben würde ohne Ende, wie er sie seit der Kindheit liebte, als das teure Geschöpf, dessen einziger Kuß genügt hatte, um sein ganzes Leben zu verklären. Sie aber, die bereits unruhig war, hieß ihn schweigen, denn sie fürchtete, diese reine Minute zu vergällen.
    »Nein, nein, Pierre, sprechen wir nicht mehr. Es wäre vielleicht

Weitere Kostenlose Bücher