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Lourdes

Lourdes

Titel: Lourdes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emile Zola
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erwachte von neuem und verdunkelte ihre großen blauen Augen.
    »Mein guter Pierre, nicht wahr, Sie werden oft zu uns kommen?«
    Als er fühlte, wie ihre kleine Hand die seine drückte, hatte er gezittert. Sein Herz lag auf seinen Lippen, und er entschloß sich zu sprechen. Dennoch hielt er sich zurück und stammelte:
    »Marie, ich bin nicht immer frei, ein Priester kann nicht überall hingehen.«
    »Ein Priester«, wiederholte sie, »ja, ja, ein Priester, ich begreife.«
    Jetzt sprach sie und bekannte das tödliche Geheimnis, unter dem ihr Herz seit der Abfahrt erstickte. Sie beugte sich noch mehr vor und fuhr mit noch leiserer Stimme fort:
    »Hören Sie, mein guter Pierre, ich bin entsetzlich traurig, ich sehe aus, als wäre ich zufrieden, aber der Tod wohnt in meiner Seele ... Sie haben mich gestern belogen.«
    Er erschrak und verstand zuerst nicht.
    »Ich habe Sie belogen?«
    Eine gewisse Scham hielt sie zurück, sie zögerte noch in dem Augenblick, da sie in dies Geheimnis eines Gewissens drang, das nicht ihr eigenes war. Dann sprach sie im Tone einer Freundin, einer Schwester:
    »Ja, Sie haben mich glauben lassen, Sie wären mit mir gerettet, und das war die Unwahrheit, Pierre, denn Sie haben den verlorenen Glauben nicht wiedergefunden.«
    Großer Gott, sie wußte es also! Das war für ihn ein Gefühl tiefer Betrübnis, eine so erschütternde Katastrophe, daß er seine Qualen darüber vergaß. Zuerst wollte er auf seiner Lüge brüderlichen Mitleids bestehen.
    »Aber ich versichere Sie, Marie! Wie kann Ihnen nur ein so häßlicher Gedanke kommen?«
    »Oh, mein Freund, schweigen Sie, wenigstens aus Mitleid! Es würde mir zu wehe tun, wollten Sie mich noch weiter belügen ... Sehen Sie, es war da unten auf dem Bahnhof, im Augenblick der Abfahrt, als der unglückliche Mann starb. Der gute Abbé Judaine war niedergekniet und hätte für die Ruhe dieser unruhigen Seele Gebete gesprochen ... Da habe ich alles gefühlt, alles begriffen, als ich sah, daß Sie sich nicht auch auf die Knie warfen, als das Gebet nicht auch auf Ihre Lippen stieg.«
    »Wahrhaftig, Marie, ich versichere Sie ...«
    »Nein, nein, Sie haben nicht für den Toten gebetet, Sie glauben nicht mehr ... Und dann ist es auch etwas anderes, ich errate alles, alles, was zu mir von Ihnen kommt, diese Verzweiflung, die Sie nicht verbergen können, die Schwermut Ihrer armen Augen, sobald sie meinem Blick begegnen ... Die Heilige Jungfrau hat mich nicht erhört, sie hat Ihnen den Glauben nicht wiedergegeben, und ich bin sehr unglücklich!«
    Sie weinte, und eine heiße Träne fiel auf die Hand des Priesters, der sie noch immer hielt. Das brachte ihn aus der Fassung, er hörte auf zu kämpfen, gestand und ließ ebenfalls seine Tränen fließen, während er mit ganz leiser Stimme flüsterte:
    »Oh, Marie, auch ich bin sehr unglücklich, sehr unglücklich!«
    Einen Augenblick schwiegen sie in ihrem grausamen Kummer, den Abgrund ihrer Glaubensanschauungen zwischen sich zu fühlen. Nie würden sie mehr einander angehören, und besonders brachte sie ihre von nun an endgültige Ohnmacht zur Verzweiflung, daß sie sich nicht mehr nähern durften, da der Himmel selbst sich geweigert hatte, das Band wieder zu knüpfen. Seite an Seite weinten sie über ihre Trennung.
    »Und ich habe doch«, fuhr sie mit schmerzerfüllter Stimme fort, »so innig für Ihre Bekehrung gebeten, ich war so glücklich!... Es war mir, als verschmelze Ihre Seele mit der meinen, und es war ein so köstliches Gefühl, daß wir zusammen, zusammen gerettet worden waren! Ich fühlte in mir Kräfte zum Leben, Kräfte, um die Welt aus ihren Angeln zu heben!«
    Er antwortete nicht, und seine Tränen flössen noch immer ohne Ende.
    »Und sich sagen zu müssen«, fuhr sie fort, »daß ich allein geheilt worden bin, daß ich dieses große Glück ohne Sie besitze! Wenn ich Sie verlassen und traurig sehe, dann zerreißt es mir das Herz, während ich mit Gnaden und Freuden überhäuft bin. Ach, die Heilige Jungfrau ist streng gewesen! Warum hat sie nicht zu derselben Zeit, da sie meinen Körper heilte, auch Ihre Seele geheilt?«
    Die letzte Gelegenheit bot sich dar, er hätte sprechen müssen, um endlich die Klarheit des Verstandes in dieses unschuldige Kind eindringen zu lassen, er hätte das Wunder erklären müssen, damit das Leben, nachdem es sein heilendes Werk an ihr vollendet hatte, seinen Triumph dadurch krönte, daß es sie einander in die Arme warf. Auch er war genesen, denn sein Verstand war jetzt

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