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Lourdes

Lourdes

Titel: Lourdes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emile Zola
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sich schließlich auch noch krank machen.«
    Sie ließ sich nieder und bettete den Kopf der Grivotte, deren blutige Lippen sie trocknete, an ihre Schulter. Der Anfall beruhigte sich, aber die Schwäche wurde wieder so groß, daß die Unglückliche nur mit Mühe stammeln konnte:
    »Oh, es ist nichts, es ist durchaus nichts, ich bin geheilt, vollständig geheilt.«
    Pierre war bestürzt. Dieser niederschmetternde Rückfall hatte den Wagen mit Entsetzen erfüllt. Viele erhoben sich und blickten sich mit Schrecken um. Dann kauerten sie sich wieder in ihren Winkel, niemand sprach, niemand rührte sich mehr. Und Pierre dachte an den erstaunlichen medizinischen Fall, den dieses Mädchen bot: die dort unten wiederhergestellten Kräfte, der starke Appetit, die weiten Gänge, das strahlende Gesicht, die tanzenden Glieder, dann das ausgespuckte Blut, dieser Husten, dieses bleifarbene Gesicht einer Sterbenden, die brutale Rückkehr der Krankheit, die trotzdem Siegerin blieb. War das eine ganz besondere Schwindsucht, die durch eine Neurose noch verwickelter wurde? War das irgendeine andere Krankheit, ein unbekanntes Übel, das ruhig sein Werk fortsetzte? Das Meer der Irrtümer und der Unwissenheit begann, diese Schattenwelt, mit der die menschliche Wissenschaft noch immer kämpft. Und er sah wieder Doktor Chassaigne verächtlich die Achseln zucken, während der Doktor Bonamy unerschüttert seine Arbeit in der unbedingten Gewißheit fortsetzte, daß niemand ihm die Unmöglichkeit seiner Wunder beweisen würde, ebensowenig wie er selbst deren Möglichkeit hätte begründen können.
    »Oh, ich habe keine Furcht«, stammelte die Grivotte noch immer, »sie haben es mir ja da unten alle gesagt, ich bin geheilt, vollständig geheilt.«
    Der Zug rollte immer weiter durch die schwarze Nacht dahin. Jeder traf seine Vorkehrungen und streckte sich aus, um bequemer zu schlafen. Man zwang Frau Vincent, sich auf der Bank auszustrecken und gab ihr ein Kopfkissen, auf dem sie ihren armen, schmerzerfüllten Kopf betten konnte. Und nun schlummerte sie, stumpfsinnig und artig wie ein Kind, in der Empfindungslosigkeit eines Alpdrucks unter großen, schweigsamen Tränen, die noch immer aus ihren geschlossenen Augen herabrollten. Auch Elise Rouquet, die eine ganze Bank für sich hatte, schickte sich zum Schlafen an. Aber vorher machte sie große Nachttoilette, knüpfte sich das schwarze Tuch, das ihr dazu gedient hatte, ihre Wunde zu verdecken, um den Kopf und betrachtete sich, ob sie schön genug wäre mit ihrer von der Geschwulst befreiten Lippe. Und von neuem wunderte sich Pierre über diese in der Heilung begriffene, wenn auch noch nicht ganz geheilte Wunde, über dieses Ungeheuergesicht, das man jetzt ohne Ekel betrachten konnte. Wieder begann das Meer der Ungewißheit. War es kein richtiger Lupus? War es nur eine Art unbekannten Geschwürs hysterischen Ursprungs, oder mußte man sogar zugeben, daß gewisse schlecht erforschte Arten von Lupus, die von der schlechten Ernährung der Haut herrührten, durch eine starke, moralische Erschütterung geheilt werden konnten? Es war ein Wunder, wenn er nicht in drei Wochen, in drei Monaten oder in drei Jahren wieder erschien, wie die Schwindsucht der Grivotte.
    Es war zehn Uhr, der ganze Wagen schlummerte, als man Lamothe verließ. Schwester Hyacinthe, die den Kopf der eingeschlummerten Grivotte auf ihren Knien behalten hatte, konnte sich nicht erheben. Sie begnügte sich, der Form wegen mit leichter Stimme, die sich im Rollen der Räder verlor, zu sagen:
    »Stille, liebe Kinder, stille.«
    Aber irgend etwas bewegte sich noch immer im Hintergrunde eines Nebenabteils, ein Geräusch, das sie erregte und das sie schließlich erkannte.
    »Sophie, was haben Sie denn fortwährend mit dem Fuß auf die Bank zu klopfen? Sie müssen schlafen, mein Kind.«
    »Ich klopfe nicht mit dem Fuß, Schwester, das ist ein Schlüssel, der unter meinen Schuh gerollt ist.«
    »Wie, ein Schlüssel? Geben Sie ihn mir her.«
    Sie sah ihn prüfend an, es war ein sehr ärmlicher, sehr alter Schlüssel, vom Gebrauch schwarz geworden, abgeschabt und poliert, dessen wiederzusammengelöteter Ring noch die Lötstelle zeigte. Alle hatten in den Taschen gewühlt, niemand hatte den Schlüssel verloren.
    »Ich habe ihn da im Winkel gefunden«, fuhr Sophie fort, »er muß dem Mann gehören.«
    »Welchem Mann?« fragte die Nonne.
    »Nun, dem Manne, der gestorben ist.«
    Man hatte ihn bereits vergessen.
    Schwester Hyacinthe erinnerte sich. Ja, ja,

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