Lourdes
Marie wieder ein tiefes Mitleid, als sie Frau Vincent betrachteten, die nichts aus der Starrheit, in der sie sich befand, hatte reißen können, weder der lärmende Aufenthalt in Poitiers, noch das Geräusch der Stimmen, seitdem man von neuem dahinrollte. Auf der Bank ausgestreckt, hatte sie die Augen noch nicht geöffnet und schlummerte noch immer, von schrecklichen Träumen gequält. Und während nach wie vor große Tränen von ihren Wimpern herabrollten, erfaßte sie das Kopfkissen, das man ihr mit Gewalt aufgedrängt hatte, und drückte es in einem bösen Traum innig an die Brust.
Ihre armen Mutterarme, die so lange die sterbende Tochter getragen hatten, ihre unbeschäftigten, auf immer leeren Arme hatten in ihrem Schlummer dieses Kissen gefunden und hielten es in blinder Umarmung wie ein Phantom umschlossen.
Herr Sabathier hatte ein fröhliches Erwachen. Während Frau Sabathier die Decke zurückschlug und sorgfältig seine toten Beine umwickelte, begann er, wieder ganz im Banne der gnadenreichen Illusion, mit glänzenden Augen zu plaudern. Er erzählte, er habe von Lourdes geträumt, und die Heilige Jungfrau habe sich mit einem Lächeln wohlwollenden Versprechens über ihn geneigt. Und vor Frau Vincent, dieser Mutter, deren Tochter sie hatte sterben lassen, vor der Grivotte dieser elenden, von ihr geheilten Frau, die wieder so rauh in ihr tödliches Leiden zurückgesunken war, freute er sich und sprach wiederholt zu Herrn von Guersaint mit einem Ausdruck unbedingter Gewißheit:
»Ich kehre ganz ruhig nach Hause zurück... Im nächsten Jahre werde ich geheilt werden ... Ja, ja, wie es eben diese liebe Kleine rief: nächstes Jahr, nächstes Jahr!«
Das war die unzerstörbare, die siegreiche Illusion der Gewißheit, die ewige Hoffnung, die nicht sterben wollte, die nach jeder Niederlage auf den Ruinen aller Erwartungen nur um so lebhafter emporblühte.
In Châtellerault ließ Schwester Hyacinthe das Morgengebet sprechen, das Pater und das Ave, das Credo, einen Aufruf an Gott, um das Glück eines glorreichen Tages von ihm zu erbitten. Oh, mein Gott, gib mir die nötige Kraft, um alles Böse zu vermeiden, um alles Gute auszuüben und alle Leiden zu erdulden!
V
Die Reise dauerte fort, immer weiter, immer weiter rollte der Zug dahin. In Saint-Maur sprach man die Meßgebete, und in Saint-Pierre-des-Corps sang man das Credo;. Aber die frommen Übungen wurden mit weniger Liebe betrieben, der Eifer ermattete in der wachsenden Ermüdung dieser Rückfahrt. Daher sah auch Schwester Hyacinthe ein, eine Vorlesung würde eine glückliche Erholung für diese überanstrengten Leute bilden, und sie versprach, sie würde dem Herrn Abbé erlauben, ihnen das Ende von Bernadettes Leben vorzulesen, aus dem er ihnen schon zweimal so wunderbare Episoden erzählt hatte. Aber man solle bis Aubrais warten. Von Aubrais bis Etampes würde man zwei Stünden haben, gerade die erforderliche Zeit, um die Geschichte zu vollenden, ohne daß man gestört würde.
Nun folgten die Stationen von neuem aufeinander in der eintönigen Wiederholung des Weges, den man schon auf der Hinfahrt nach Lourdes durch dieselben Ebenen gemacht hatte. Wieder begann man den Rosenkranz in Amboise und sagte den ersten Teil, die fünf freudigen Mysterien, her. Nachdem man dann in Blois den Kantus: »O segne, zärtliche Mutter« hergesagt, sprach man in Beaugency den zweiten Teil, die fünf schmerzlichen Mysterien. Die Sonne hatte sich schon am frühen Morgen in einen feinen Wolkenschleier gehüllt, und die Landschaft floh sanft und ein wenig traurig in ihrer ununterbrochenen Fächerbewegung an ihnen vorbei. An den beiden Seiten des Weges verschwanden die Bäume und Häuser unter dem grauen Lichte in einer unklaren, traumhaften Leichtigkeit, während in der Ferne die in Nebel eingehüllten Hügel sich langsamer, mit dem beruhigten Schaukeln mächtiger Wellen, den Blicken entzogen. Zwischen Beaugency und Aubrais schien der Zug in seiner Schnelligkeit nachzulassen. Unablässig rollte er mit dem rhythmischen Rasseln der Räder dahin, das die betäubten Pilger nicht mehr hörten.
Endlich begann man, als man Aubrais verlassen hatte, im Wagen zu frühstücken. Es war dreiviertel zwölf Uhr. Als man dann das Angelus gesprochen und die drei Ave dreimal wiederholt hatte, zog Pierre aus Maries Koffer das kleine Büchlein hervor, dessen blauer Deckel mit einem einfachen Bilde Unserer Lieben Frau von Lourdes geschmückt war. Schwester Hyacinthe hatte in die Hände geklatscht,
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