Lourdes
ihrem Gehäuse aus Tannenholz mit ernsten Schlägen in der tiefen Stille die Stunden ankündigte.
Ach, diese Jahre in Bartrès, in welch seligem Entzücken hatte Bernadette sie verlebt! Sie wuchs nur langsam und war immer krank, da sie an nervösem Asthma litt, das sie bei dem geringsten Wehen des Windes zu ersticken drohte. Im Alter von zwölf Jahren konnte sie weder lesen noch schreiben und sprach nur den Dialekt der Umgegend. Sie war ein gutes kleines Mädchen, sehr sanft und sehr artig, im übrigen ein Kind wie jedes andere, nur nicht schwatzhaft. Sie liebte es vielmehr, zuzuhören als selbst zu reden. Obgleich sie nicht begabt war, zeigte sie natürlichen Verstand und hatte sogar bisweilen eine schlagfertige Antwort bei der Hand, ein einfaches Scherzwort, das Lachen verursachte. Man hatte unendliche Mühe gehabt, ihr den Rosenkranz beizubringen. Als sie ihn endlich auswendig wußte, schien sie ihr ganzes Wissen darauf beschränken zu wollen. Sie sagte ihn während des ganzen Tages, vom Morgen bis zum Abend, her, so daß man sie schließlich bei ihren Schafen nur noch mit dem Rosenkranz in der Hand antraf, die Pater und Aves betend. Wie viele Stunden hatte sie so auf den grasigen Abhängen der Hügel verlebt, umwogt von dem geheimnisvollen Rauschen der Blätter, während sie von der Welt nichts weiter sah als nur auf kurze Augenblicke in weiter Ferne die höchsten Gipfel der Berge, in strahlendes Licht getaucht, wie ein Traumbild rasch entschwindend. Die Tage schwanden dahin, und immer begleitete sie bei ihrem Herumziehen der engbegrenzte Traum, das einzige Gebet, das sie fortwährend wiederholte und welches ihr keine andere Gefährtin und Freundin gab als die Heilige Jungfrau mitten in dieser frischen, kindlich-naiven Einsamkeit. Welch schöne Abende verlebte sie dann während des Winters in dem saalartigen Raume links von der Treppe, in dem ein Feuer brannte! Ihre Amme hatte einen Bruder, der Priester war und ihnen manchmal wunderbare Geschichten vorlas, Geschichten von heiligen Männern und Frauen, von ungeheuerlichen Abenteuern, die einen vor Angst und Freude zittern machten, von Erscheinungen des Paradieses auf der Erde, während der halbgeöffnete Himmel den Glanz der Engel offenbarte. Die Bücher, die er mitbrachte, waren oft voll von Bildern, sie zeigten den lieben Gott in seiner ganzen Glorie, die zarte und freundliche, lichtumflossene Gestalt Jesu Christi, vor allem aber die Heilige Jungfrau, die immer wiederkehrte, glänzend und weiß, azurblau und gold gekleidet. Die Bibel war das Buch, das man am fleißigsten las, eine alte, vergilbte Bibel, die sich seit hundert Jahren in der Familie vererbt hatte. An jedem Spinnstubenabend nahm der Pflegevater, der lesen gelernt hatte, eine Nadel, steckte sie auf gut Glück in die Bibel und fing dann oben zu lesen an unter der gespannten Aufmerksamkeit der Frauen und Kinder, die schließlich den Text auswendig wußten und hätten fortfahren können, ohne sich um ein Wort zu irren.
Bernadette zog die frommen Bücher vor, in denen die Heilige Jungfrau mit ihrem Lächeln vorkam. Doch fand sie auch Gefallen an einer andern wunderbaren Geschichte, an der von den vier Haimonskindern. Auf dem gelben Einbande des Buches sah man in einem naiven Stiche die vier ritterlichen Helden, Renaud und seine Brüder, die alle vier zusammen auf Bayard, ihrem berühmten Schlachtroß, saßen, mit dem sie einst von der Fee Orlande königlich beschenkt worden waren. Ferner erblickte man die Erbauung und Belagerung von Festungen, blutige Kämpfe, schreckliche Gefechte zwischen Roland und Renaud, der endlich auszog, das Heilige Land zu befreien, nicht zu vergessen den Zauberer Maugis mit seinen wunderbaren Zauberkünsten, und die Prinzessin Clarisse, die Schwester des Königs von Aquitanien, die schöner war als der Tag. Wenn ihre Einbildungskraft erregt war, kostete es Bernadette zuweilen viel Mühe, einzuschlafen, besonders an den Abenden, an denen man die Bücher beiseiteließ und einer von den Anwesenden eine Hexengeschichte erzählte. Sie war sehr abergläubisch, und man hätte sie niemals dazu bringen können, nach Sonnenuntergang an einem Turme in der Nachbarschaft vorüberzugehen, den der Teufel öfters besuchen sollte. Die ganze Gegend war sehr fromm und einfältig und wimmelte von Geheimnissen, von Bäumen, welche sangen, von Steinen, aus denen Blut perlte, von Kreuzwegen, an denen man drei Vaterunser und drei Aves beten mußte, wenn man nicht dem wilden Tiere mit den sieben
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