Lourdes
Hyacinthe in die Hände und rief:
»Vorwärts, beeilen wir uns! Das Abendgebet!«
Dann folgte beinahe eine Viertelstunde ein wirres Gemurmel der Paternoster und Aves, eine Gewissensprüfung, eine Bußübung, die gänzliche Hingabe an Gott, an die Heilige Jungfrau und an die Heiligen, ein Dankgebet für den glücklich verbrachten Tag, das mit einer Fürbitte für die Lebenden und für die Verstorbenen schloß.
»Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes ... Amen!«
Es war acht Uhr zehn Minuten, die Abenddämmerung sank auf das Land nieder, auf eine unermeßliche Ebene, die durch den Abendnebel vergrößert wurde, und in der von fern her aus vereinzelt gelegenen Häusern helles Licht freundlich herüberleuchtete. Die Lampen im Wagen flackerten unruhig hin und her und beleuchteten mit ihrer gelblichen Flamme das zahlreiche Gepäck und die Pilger, die durch die schaukelnden Bewegungen durcheinander gerüttelt wurden.
»Ihr wißt, meine lieben Kinder«, begann Schwester Hyacinthe, die stehengeblieben war, »daß ich in Lamothe, ungefähr eine Stunde von hier, Ruhe anordnen werde. Ihr habt also noch eine Stunde, um euch zu unterhalten. Aber seid vernünftig und regt euch nicht zu sehr auf! Und dann nach Lamothe, versteht mich wohl, kein Wort mehr, nicht eine Silbe! Denn ich will, daß ihr alle gut schlafen sollt!«
Diese Worte brachten sie zum Lachen.
»Ja, das ist die Regel, und ihr seid sicherlich zu vernünftig, um nicht zu gehorchen.«
Sie hatten seit dem Morgen pünktlich das Programm der religiösen Übungen ausgeführt, die für jede Stunde bestimmt waren. Jetzt, wo alle Gebete gesprochen, die Rosenkränze hergesagt und die frommen Lieder gesungen waren, der Tag also sein Ende erreicht hatte, blieb noch eine Stunde vor der Nachtruhe der Erholung gewidmet. Aber sie wußten nicht, was sie anfangen sollten.
»Liebe Schwester«, sagte Marie, »wollen Sie nicht vielleicht den Herrn Abbé beauftragen, uns etwas vorzulesen? Er liest vortrefflich, und ich habe da ein kleines Buch, eine hübsche Geschichte der Bernadette ...«
Man ließ sie nicht vollenden, alle riefen ungestüm und leidenschaftlich wie Kinder, denen man ein schönes Märchen versprochen hatte:
»O ja, liebe Schwester! O ja, liebe Schwester!« .
»Selbstverständlich gestatte ich es«, erwiderte die Nonne, »da es sich um ein gutes Buch handelt.«
Pierre mußte einwilligen. Aber er wollte unter der Lampe sitzen und mußte deshalb mit Herrn Guersaint den Platz wechseln, der von der Ankündigung einer Geschichte ebenso entzückt war wie die Kranken. Als der junge Priester den passenden Platz gefunden und erklärt hatte, daß er gut sehen könnte, öffnete er das Buch. Ein Zittern durchlief den Wagen, alle Köpfe reckten sich in die Höhe, alle sammelten ihre Gedanken und spitzten die Ohren. Glücklicherweise hatte er eine deutliche und starke Stimme, mit der er den Lärm der Räder übertönte, die durch die endlose Ebene dahinrollten.
Bevor Pierre jedoch mit dem Lesen anfing, prüfte er das Buch. Es war eines jener kleinen Kolportagebücher, die von katholischen Buchhandlungen herausgegeben und in einer Unzahl von Exemplaren in der ganzen Welt verbreitet werden. Schlecht gedruckt und auf billigem Papier, trug es auf seinem blauen Umschlag ein Bild unserer lieben Frau von Lourdes, ein naives Kunstwerk von steifer, unbeholfener Grazie. Eine halbe Stunde würde sicherlich genügen, es vorzulesen, ohne sich dabei zu übereilen.
Und Pierre begann mit seiner schönen, klaren Stimme, die einen angenehmen, durchdringenden Ton hatte:
»Es war in Lourdes, einer kleinen Stadt in den Pyrenäen, am Donnerstag, den 11. Februar 1858. Das Wetter war kalt und der Himmel etwas bedeckt. Es fehlte in dem Hause des armen, aber ehrlichen Müllers, Francois Soubirous, an Holz, um das Essen zu bereiten. Seine Frau, Louise, sagte zu ihrer zweiten Tochter Marie: ›Geh an das Ufer des Gave oder in den Gemeindewald und suche Holz!‹ Der Gave ist ein Gebirgsbach, der durch Lourdes fließt.
Marie hatte eine ältere Schwester, Bernadette mit Namen, die vor kurzem vom Lande zurückgekehrt war, wo sie bei braven Bauersleuten als Schäferin gedient hatte. Sie war ein schwaches, zartes Kind von großer Unschuld, dessen ganzes Wissen darin bestand, daß es den Rosenkranz hersagen konnte. Louise Soubirous trug wegen der Kälte Bedenken, sie mit ihrer Schwester in das Holz zu schicken. Aber auf die inständigen Bitten Mariens und einer kleinen Nachbarin,
Weitere Kostenlose Bücher