Lourdes
Jahr der Erfolg der Pilgerzüge sich steigerte, so kam das daher, weil den in ihrem Verlangen nach Trost herbeigeeilten Völkerscharen das köstliche Brot der Hoffnung winkte, nach dem die leidende Menschheit unaufhörlich Hunger hat. Und es waren nicht nur die physischen Leiden, die nach Heilung riefen, das ganze moralische und intellektuelle Sein klagte laut sein Leid in dem unstillbaren Durste nach Glück. Glücklich sein, die Gewißheit seines Lebens in den Glauben setzen, sich bis zum Tode auf diesen festen und einzig sicheren Reisestab stützen können, das war der Wunsch, der aus allen Herzen aufstieg, der alle Schmerzen niederknien ließ in dem Flehen um Gnade, um das geistige Heil für sich selbst und für die, die man liebt. Der ungeheure Schrei pflanzte sich fort, stieg empor und erfüllte den Raum, der Schrei: Glücklich sein für immer, im Leben und im Tode!
Pierre hatte gesehen, wie alle die Leidenden, die ihn umgaben, das Rasseln der Räder nicht mehr vernahmen und wie sie ihre Kräfte wiederfanden mehr und mehr nach jeder zurückgelegten Meile, die sie dem Wunder näherbrachte. Selbst Frau Maze wurde gesprächig in der festen Überzeugung, daß die Heilige Jungfrau ihren Gatten zu ihr zurückführen würde. Frau Vincent wiegte selig lächelnd ihre kleine Rose und fand sie viel weniger krank als jene halbtoten Kinder, die man in das eiskalte Wasser tauchte und die dann spielten. Herr Sabathier plauderte mit Herrn von Guersaint und erzählte ihm, daß er im Oktober, wenn er seine Beine wieder gebrauchen könnte, nach Rom gehen würde, eine Reise, die er schon seit fünfzehn Jahren von Jahr zu Jahr verschoben hätte. Frau Vêtu, die sich ebenfalls etwas beruhigt hatte, wenn ihr Magen sie auch noch immer quälte, glaubte Hunger zu haben und bat daher Frau von Jonquière, ihr kleine Brotschnitten in ein Glas Milch einzutauchen, während Elise Rouquet, ohne an ihre Wunde zu denken, ihr Gesicht enthüllt hatte und eine Weintraube aß. Und Frau Grivotte, die auf ihrem Platze saß, und Bruder Isidor, der aufgehört hatte zu stöhnen, waren infolge dieser schönen Märchen in einem glücklichen Fieberzustande, so daß sie in ihrem ungeduldigen Verlangen nach Heilung sich sichtlich beruhigten. Sogar der Unbekannte kam, wenn auch nur auf eine Minute, zum Bewußtsein. Als Schwester Hyacinthe von neuem den kalten Schweiß von seinem Gesichte abtrocknete, öffnete er die Augenlider, während einen Augenblick ein Lächeln sein Gesicht verklärte. Noch einmal hatte er gehofft. Marie hielt noch immer die Hand Pierres. Es war sieben Uhr; man sollte um siebeneinhalb Uhr in Bordeaux sein. Der Zug, der sich etwas verspätet hatte, beschleunigte, um die verlorenen Minuten wieder einzuholen, seine Geschwindigkeit. Das Gewitter hatte aufgehört zu toben, und von dem weiten, klaren Himmelszelte senkte sich ein unendlich süßer Friede auf die Erde herab.
»Oh, Pierre, wie schön ist das! Wie schön ist das!« wiederholte Marie von neuem und drückte ihm die Hand in überschwellendem Zärtlichkeitsgefühle.
Dann beugte sie sich zu ihm hin und flüsterte ihm mit ganz leiser Stimme zu:
»Pierre, ich habe vorhin die Heilige Jungfrau gesehen und sie um Ihre Heilung gebeten. Sie hat sie mir zugesagt.«
Der junge Priester verstand sie und wurde ganz verwirrt von dem himmlischen Glanze ihrer Augen, die sie auf die seinigen geheftet hielt. Sie hatte sich selbst vergessen und nur um seine Bekehrung gebeten. Dieser Glaubenswunsch, der so rein von diesem leidenden Wesen ausging, brachte seine Seele zur Umkehr. Warum sollte er nicht eines Tages glauben? Er selbst war von den vielen außergewöhnlichen Erzählungen wie verwirrt. Die erstickende Hitze in dem Wagen hatte ihn betäubt, und der Anblick von so viel Elend und Jammer ließ sein mitleidiges Herz bluten. Die Ansteckung wirkte. Er wußte nicht mehr genau, wo das Wirkliche und das Mögliche aufhörte, er war unfähig, diese Überfülle verwirrender Tatsachen zu erklären oder zu verwerfen. Er gehörte sich nicht mehr selbst, er bildete sich in dem verzückten Taumel dieses rollenden Hospitals schließlich ein, daß er glaube.
V
Der Zug verließ Bordeaux nach einem Aufenthalte von einigen Minuten, den die, die noch nicht zu Mittag gegessen hatten, dazu benützten, sich in aller Eile Vorräte einzukaufen. Die Kranken bekamen etwas Milch zu trinken und hörten nicht auf, wie Kinder um Biskuit zu bitten. Sobald sich der Zug von neuem in Bewegung gesetzt hatte, klatschte Schwester
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