Lourdes
vorüberging. Einige Sekunden flüsterten sie miteinander. Dann eilte der Baron hinweg und brach sich mit zwei Krankenträgern, die eine Bahre trugen, durch die Menschenmenge einen Weg. Der Tote wurde hinweggetragen wie ein Kranker, der die Besinnung verloren hat, ohne daß die Menge der Pilger sich weiter um ihn gekümmert hätte. Die beiden Krankenträger, denen der Baron vorausschritt, setzten ihn in dem Gepäckraum hinter Fässern nieder. Der eine von ihnen, Sohn eines Generals, blieb bei dem Leichnam als Wache.
Schwester Hyacinthe war inzwischen in den Wagen zurückgeeilt, nachdem sie die Schwester Saint-François und Ferrand gebeten hatte, auf dem Bahnhofsplatze bei dem reservierten Wagen zu warten, der sie zusammen nach dem Hospital Notre-Dame des Douleurs bringen sollte. Als sie sagte, daß sie noch ihren Kranken beim Aussteigen behilflich sein möchte, wollte Marie nicht zugeben, daß sie sich mit ihr befaßte.
»Nein, nein! Sie brauchen sich meiner nicht anzunehmen, liebe Schwester, ich will bis zuletzt hierbleiben ... Mein Vater und der Abbé Froment holen die Räder im Gepäckwagen. Ich warte hier ruhig, bis sie wiederkommen. Sie wissen ganz genau, wie alles gemacht wird, und werden mich dann wegführen. Sie brauchen sich also meinetwegen keine Sorge zu machen.«
Auch Herr Sabathier und der Bruder Isidor wünschten nicht eher fortgebracht zu werden, als bis sich die Menge etwas verlaufen hätte. Frau von Jonquière, die sich der Grivotte angenommen hatte, versprach dafür Sorge zu tragen, daß Frau Vêtu in einem Ambulanzwagen fortgeschafft würde. Schwester Hyacinthe entschloß sich, sofort aufzubrechen, um alles im Hospital vorzubereiten. Sie nahm auch die kleine Sophie Couteau mit und Elise Rouquet, der sie das Gesicht sorgfältig verhüllte. Vor ihnen ging noch Frau Maze fort, während Frau Vincent sich in der Menge durchkämpfte, nur von dem einen Gedanken beseelt, ihre Tochter, die totenbleich und bewußtlos auf ihrem Arme ruhte, so schnell als möglich in die Grotte zu bringen und dort zu Füßen der Heiligen Jungfrau niederzulegen. Auf dem viereckigen Platze, der an drei Seiten von niedrigen Bahngebäuden eingeschlossen ist, herrschte fürchterliches Durcheinander von Fahrzeugen aller Art. Die Hotelomnibusse trugen auf großen Schildern den heiligsten Namen, die von Maria und Jesus, vom heiligen Michael, vom Rosenkranz und vom heiligen Herzen. Dann folgte eine Menge von Ambulanzwagen und Landauern, Kabrioletts, Möbelwagen und kleinen Eselkarren, deren Kutscher schrien, fluchten und mit den Peitschen knallten. Es war ein Tumult, der durch die Dunkelheit, die die Laternen mit ihrem flackernden Licht zu durchdringen versuchten, nur noch vergrößert wurde. Der Gewittersturm hatte einen Teil der Nacht hindurch gewütet, die Fußgänger wateten bis an die Knöchel im Schmutze. Herr Vigneron, dem seine Gattin und Frau Claire in liebevoller Besorgnis folgten, trug seinen Sohn Gustave und dessen Krücke in den Omnibus des Hotels des Apparitions, in den auch er und seine Damen sich setzten. Frau Maze gab ängstlich dem Kutscher eines alten Coupés ein Zeichen, stieg ein und verschwand. Schwester Hyacinthe endlich konnte mit Elise Rouquet und Sophie Couteau in einem geräumigen Wagen Platz finden, in dem sich Ferrand und die Schwestern Saint-Francois und Ciaire des Anges niedergelassen hatten.
Beim Anblick der Menschenmenge trug Frau Vincent Bedenken, mit der teuren Last in ihren Armen weiterzugehen. Als sich der Bahnhof etwas leerte, wagte sie es. Wie schrecklich wäre es gewesen, wenn sie in diesen Pfützen, in diesem Stockdunkel mit dem Kinde zu Fall gekommen wäre! Als sie die Straße erreichte, bemerkte sie dort Gruppen von Frauen aus der Gegend, die den Fremden Wohnungen mit oder ohne Beköstigung, je nach ihrem Geldbeutel, anboten.
»Liebe Frau«, fragte sie ein altes Weib, »welches ist der Weg zu der Grotte, bitte?«
Die Frau gab ihr keine Antwort, sondern bot ihr nur ein Zimmer an.
»Alles ist besetzt; Sie werden nichts mehr in den Hotels finden ... Vielleicht werden Sie noch etwas zu essen bekommen, aber sicherlich nicht das kleinste Loch zum Schlafen.«
Essen, schlafen, oh, mein Gott! Wie durfte Frau Vincent daran denken mit dreißig Sous in der Tasche.
»Liebe Frau, bitte, welches ist der Weg nach der Grotte?«
Unter den Frauen, die an der Straße warteten, befand sich auch ein großes und starkes Mädchen in sauberer Kleidung, mit sehr einnehmendem Gesicht und gepflegten Händen.
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