Lourdes
stützte er sich fest auf einen dicken Rohrstock.
Herr Sabathier, der seit sechs Jahren hierherkam, bemerkte ihn und rief lebhaft:
»Ah! Sie sind es, Herr Hauptmann!«
Vielleicht hieß er Hauptmann. Vielleicht hatte er auch nur diesen Titel wegen seiner Ordensauszeichnung. Er war dekoriert und trug ein breites rotes Band. Niemand kannte seine Geschichte. Er befand sich schon seit drei Jahren auf dem Bahnhof, mit der Überwachung der Warenräume beauftragt. Es war eine einfache Beschäftigung, die man ihm aus Mitleid gegeben hatte und die ihm erlaubte, vollständig glücklich zu leben. Mit fünfundfünfzig Jahren traf ihn zum erstenmal ein Schlagfluß, der ihm eine kleine Lähmung der linken Seite zurückgelassen hatte. Ganz Lourdes kannte ihn wegen seiner fixen Idee, mit schleppendem Fuß und auf sein Rohr sich stützend, zu jedem einfahrenden Zug zu gehen, sich dort zu verwundern und den Kranken Vorwürfe zu machen wegen des Verlangens, das sie erfüllte, geheilt zu werden.
Seit drei Jahren sah er Herrn Sabathier. Auf diesen fiel sein Zorn.
»Wie! Sie sind schon wieder da? Sie halten also viel darauf, dieses abscheuliche Leben weiter zu leben? Aber, zum Teufel! Sterben Sie doch ruhig daheim, in Ihrem Bett! Ist das nicht das Beste auf der Welt?«
Herr Sabathier lachte, ohne ungehalten zu werden.
»Nein, nein«, sagte er, »ich will lieber gesund werden!«
»Gesund werden – gesund werden, das verlangen alle! Hunderte von Meilen zurücklegen, heulend vor Schmerz ankommen, und das, um zu genesen, um alle Pein, alle Leiden von vorne wieder durchzumachen und dann weiter zu tragen ... Ach, mein Herr! Sie in Ihrem Alter, mit Ihrem verwüsteten Körper, Sie wären schön angeführt, wenn Ihre Heilige Jungfrau Ihnen die Beine wiedergäbe! Mein Gott, was wollten Sie denn damit machen? Welche Freude hätten Sie denn daran, die Abscheulichkeit des Greisenalters um ein paar Jahre zu verlängern? Wohlan! Sterben Sie doch sofort, da Sie einmal so weit sind. Das ist das einzige Glück!«
Während Herr Sabathier gutwillig die Achseln zuckte, gleichsam als hätte er's mit einem Kinde zu tun gehabt, blieb der Abbé Judaine auf dem Bahnsteig stehen, um den Hauptmann, den auch er gut kannte, freundschaftlich auszuschelten.
»Lästern Sie nicht, mein lieber Freund«, sagte er; »auf das Leben verzichten und die Gesundheit nicht lieben, heißt Gott beleidigen. Sie selbst, wenn Sie auf mich gehört hätten, würden die Heilige Jungfrau schon um die Heilung Ihres Beines gebeten haben.«
Darüber ungehalten, antwortete sodann der Hauptmann:
»Mein Bein! An dem kann sie nichts machen, darüber bin ich ruhig! Der Tod mag nur kommen, es soll zu Ende gehen für immer ... Wenn man sterben muß, dreht man sich gegen die Wand und stirbt. Damit basta!«
Aber der alte Priester unterbrach ihn. Er zeigte ihm Marie, die, in ihrer Kiste ausgestreckt, ihnen zuhorchte.
»Sie würden alle unsere Kranken zurückschicken«, sagte er, »damit sie in ihrer Heimat sterben könnten, nicht wahr? Selbst das Fräulein, das in voller Jugend steht, und das leben will?«
Marie öffnete ihre großen Augen in heißer Sehnsucht und mit dem Wunsch, zu leben, dem Wunsch, auch teilzuhaben an der Welt. Der Hauptmann hatte sich ihr genähert und betrachtete sie. Er wurde plötzlich von einer tiefen Bewegung ergriffen, welche seine Stimme zittern machte.
»Wenn das Fräulein gesund wird«, sagte er, »so wünsche ich ihm ein zweites Wunder: jenes, daß sie glücklich würde.«
Und er ging weg und setzte als heftig gekränkter Philosoph seinen Spaziergang mitten unter den Kranken fort, indem er den Fuß nachzog und die eiserne Spitze seines dicken Rohrstockes auf die Steinfliesen stieß.
Nach und nach hatte sich der Bahnsteig geleert, man hatte Frau Vêtu und die Grivotte weggetragen. Gérard führte Herrn Sabathier in einem kleinen Wagen fort, während der Baron Suire und Berthaud bereits Befehle für den grünen Zug gaben, den man demnächst erwartete. Nur Marie war noch da, und Pierre nahm sich ihrer mit Eifer an. Als sie wahrnahmen, daß Herr von Guersaint verschwunden war, hatte er sie auf den Hof der Bahnstation gefahren. Dort bemerkten sie sofort Herrn von Guersaint, der sich mit dem Abbé des Hermoises, dessen Bekanntschaft er gemacht hatte, angelegentlich unterhielt. Die gleiche Freude an der Natur hatte sie einander genähert. Der Tag war vollständig angebrochen. Die Berge der Umgebung zeigten sich in ihrer Majestät. Herr von Guersaint rief
Weitere Kostenlose Bücher