Love Alice
andere Seite der Waldlichtung zu kommen. Plötzlich bleibe ich stehen.
»Schau mal«, rufe ich.
Auf der schwarzen Erde liegt ein großer, leuchtend gelber Kürbis. Sein grüner Stiel wirkt so unpassend dünn und schwach, es ist kaum vorstellbar, dass der Kürbis daran gewachsen ist. So einen hatte Cinderella, als die Fee ihr eine Kutsche zauberte. Er sieht aus wie gemalt.
»Riesig«, sage ich.
Wir stehen eine Weile so da, ehrfürchtig und still, bis Cherry auf einmal mit dem Fuß ausholt und mit Schmackes in die glänzende Kürbisbacke tritt. Der gebrochene Rand ist nun schmutzig von ihren Stiefeln. Der perfekte Kürbis ist verwundet, das Fruchtfleisch schaut weich und verletzlich aus dem Loch. Ich bin entrüstet.
Cherry sieht mich nicht an, geht zu einem hohen Drahtzaun und klettert darüber. Dann dreht sie sich zu mir, ihre Augen leuchten vor Trotz.
»Warum hast du das getan?«, frage ich leise.
»Was weiß ich«, sagt Cherry achtlos. »Weil mich das Arschloch mal geärgert hat, dem das hier gehört.«
Sie spuckt zur Seite, wie ein Junge.
Mir tut der Kürbis furchtbar leid. Ich erinnere mich, wie ich einmal im Fernsehen eine Sendung über Gemüsewettbewerbe gesehen habe. Jetzt stelle ich mir das enttäuschte Gesicht des Kürbisbesitzers vor, der nun auf keinen Fall mehr bei einem Wettbewerb mitmachen kann.
»Und du, willst du hier auf ihn warten?«, fragt Cherry. Ihre Stimme klingt scharf, sie ist fest entschlossen, meine vorwurfsvollen Blicke zu ignorieren.
Ich versuche, über den Drahtzaun zu klettern. Die Maschen sind klein und schneiden mir in die Finger. Ich wundere mich darüber, wie schnell und einfach es bei Cherry ausgesehen hat. Als ich oben bin, beginnt sie, mit beiden Händen heftig am Zaun zu rütteln.
»Hör auf!«, kreische ich, der Zaun biegt sich vor und zurück und ich klammere mich daran wie eine Spinne im Sturm.
Cherry reagiert nicht auf meine Schreie. Sie schmeißt sich mit ihrem ganzen Körper ins Zeug, aggressiv wie ein Wachhund. »Jaaa! Der Kürbisgeist kehrt zurück!«, brüllt sie dabei wie eine Irre.
Ich kann mich nicht halten, meine Stiefel rutschen aus und meine Finger krampfen, ohne etwas festzuhalten. Ich falle auf die andere Zaunseite, mein Gesicht wird von einem abstehenden Draht gestreift. Es fühlt sich an, als habe jemand ein heißes Messer an meiner Stirn abgewischt. Mit einem spitzen Aufschrei lande ich auf dem Boden und halte mich am Kopf. Cherry tritt näher.
»Hast du was?«, fragt sie.
Ich drehe mich beleidigt zur Seite. Aber Cherry lässt nicht locker. Als sie meine Hand vorsichtig wegzieht, läuft mir Blut in die Augen. »Ist gar nicht so schlimm«, sagt Cherry schnell und sieht sich um. »Du hast nur einen Schreck.«
Ich schniefe.
»Tut’s weh?« Cherry nimmt eine Handvoll Schnee vom Boden. »Gib mal her«, sagt sie, dreht meinen Kopf mit zwei Fingern zu sich und hält den Schnee an die Wunde. Der Schnee in ihrer Hand färbt sich augenblicklich rot.
»Ich weiß nicht, ob das gut ist«, krächze ich wie ein verwundeter Krieger.
»Aber du spürst es jetzt kaum noch, oder?«, sagt Cherry zufrieden.
»Ich spüre jetzt meinen ganzen Schädel«, antworte ich.
Ich sehe zu Cherry hoch und lächle, während mir Tränen aus den Augen laufen. Der Schnee ist so kalt, dass mir sogar die Zähne wehtun.
»Du darfst eben nicht loslassen«, sagt Cherry.
Wir verlassen die Schrebergärten und gehen langsam über die verschneite Lichtung. Ich halte mir immer noch Schnee an die Stirn. Cherry läuft im Zickzack neben mir her. Sie möchte nett sein. Aber sie ist zu unruhig, um bei mir zu bleiben. Schließlich beginnt sie, in Kreisen zu springen und mich mit Schnee zu bewerfen. Sobald ich stehen bleibe, hört sie damit auf und sieht nach, ob ich böse oder traurig schaue – oder ob ich Schmerzen habe. Sobald ich aber weiterlaufen will, schmeißt sie wieder Hände voller Schnee auf mich. Ich versuche, nicht zu heulen.
Zu Hause dekoriere ich die Wohnung mit meinen Gruselartikeln. Die Gummischlange verstecke ich in Mamas Bett, lege eine große, graue Gummispinne auf die halbgeöffnete Tür zum Badezimmer und platziere eine falsche Zigarette auf dem Küchentisch. Es sieht aus, als hätte die Tischplatte unter der glühenden Zigarette einen Brandabdruck bekommen.
Mama kommt erst nach Hause, als ich schon lange im Bett liege. Ich höre das Rascheln von Blumenpapier und wie sie die Schuhe auf den Boden fallen lässt. Kurz darauf poltert es im Badezimmer, sie deponiert ihre
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