Love Alice
Blumensträuße in der Dusche, wie immer. Ich weiß ganz genau, wie sie sich fühlt. Mama schlurft an meiner Tür vorbei in ihr Schlafzimmer, den Pelzmantel zieht sie über den Boden hinterher. Dann, endlich, ein Schrei. Ich werde ein wenig wacher und spähe in den Flur. Mama, im Abendkleid und Pantoffeln, rennt in die Küche. Die Gummispinne fliegt von der angelehnten Küchentür und bleibt in ihrer aufwendigen Frisur hängen. Sie schnauft empört und versucht, sich von der Gummispinne in ihren Haaren zu befreien.
So tief ich kann, versinke ich in einen theatralischen Schlaf und versuche, möglichst laut zu atmen, damit es echt aussieht. Das Licht der Laterne schimmert schwach in mein Zimmer.
»Alice? Schläfst du?«
Mama tritt an mein Bett. Ich schlafe tief und fest. Die Wunde auf meiner Stirn aber leuchtet Mama freundlich und gegen meinen Willen entgegen.
»Alice, was ist das nur für ein Bauernhumor«, sagt Mama entrüstet.
Kein Entkommen. Ich öffne verschlafen die Augen.
»Mama?« Ich lächle betont schlaftrunken aus der Wäsche. »Hast du dich erschrocken?«
Mama hält inne. Sie seufzt. »Ich bin zu müde für so was, Dodo. Was hast du da auf der Stirn?«
»Nichts«, sage ich und ziehe mir die Decke über den Kopf.
»Es ist einfach nicht witzig. Ach, jetzt zeig doch mal … ist es Farbe?«, sagt Mama und zieht an der Decke.
»Ach so, das«, sage ich möglichst beiläufig, »ja, das ist echt.«
Mama springt auf und macht das Licht an. Ich blinzele, setze mich auf und halte mir die Hand an die Stirn.
»Es hat vorhin gar nicht geblutet«, sage ich.
»Geblutet?! Wo treibst du dich herum? Was hast du dir dabei gedacht?«, kreischt Mama.
Sie verlässt hysterisch das Zimmer und kommt mit einer Jodflasche wieder.
»Es tut gar nicht weh«, versuche ich, die Situation zu retten, »ich hab es schon sauber gemacht.«
Mama besieht sich die Wunde und ist entsetzt.
»Du bist eine Frau, du musst auf dein Gesicht achten! Es ist dein größtes Kapital«, sagt sie nachdrücklich. Dabei schießen ihr plötzlich Tränen in die Augen.
Sie beginnt ungeschickt, meine Stirn mit Jod abzutupfen. Mir tut Mama wahnsinnig leid. Ich bekomme die schlimmsten Schuldgefühle seit langem.
»Das hätte bestimmt genäht werden müssen. Jetzt kriegst du eine Narbe«, schnieft Mama.
»Du hast nur einen Schreck«, sage ich.
»Kann man dich denn nicht allein lassen, du bist doch groß genug. Mit wem warst du überhaupt unterwegs?«, fragt Mama.
Als sie den jodgetränkten Wattebausch direkt in die Wunde tupft, entfährt mir ein Schmerzensschrei.
Nach einer gefühlten Ewigkeit voller Vorwürfe geht Mama erschöpft ins Bett. Ich hingegen bin jetzt richtig wach und sitze auf meinem Nest. Keinesfalls habe ich vor, ihr etwas zu verraten. Ich kann mich nicht erinnern, wann ich das letzte Mal so was Tolles wie Cherry hatte. Und Schätze, das weiß jeder, sollte man verstecken.
Wie eine leuchtende Pyramide sitze ich aufrecht unter meiner Decke und richte meine Taschenlampe auf Mamas aufgeschlagenen Gedichtband. Auf meiner Stirn klebt ein gefaltetes Taschentuch, das Mama unbeholfen mit zwei Pflastern befestigt hat. Singend flüstere ich Cherrys Reime vor mich hin: »Und der Elefant war auf einmal so charmant. Er sagte, komm, Marlene, ich werde für dich gähnen. Wie eine Hyäne zeig ich dir meine Zähne und teile meine Gurke mit dir – du süßes Tier!«
Dann halte ich inne und schaue starr nach vorne. Je schneller ich einschlafe, desto schneller kommt der nächste Tag, denke ich. Ein kurzer Blick in Mamas Buch, dann mache ich die Augen zu. »Ich kann dich noch sehn … wenn dein Gesicht … lampenhaft hell wird in mir …«, wiederhole ich leise Mamas Gedicht.
Das Versprechen
Als es an der Tür klingelt, bin ich noch im Bett. Ich bin verschlafen und verwirrt. Heute ist schulfrei, und ich habe gedacht, ich könnte ausschlafen. Die Wärme des Bettes wirkt noch nach, als ich mir den Bademantel überwerfe. Der Boden dagegen ist eisig. Am liebsten würde ich keinen Schritt mehr machen. Cherry steht vor der Tür. Ihre Wangen leuchten wie bei Schneewittchen aus dem Zeichentrickfilm, sie strahlt mich an.
»Überraschung!«, sagt sie atemlos, und ich freue mich unheimlich, sie zu sehen. »Kommst du mit?«
Ich schiebe Mamas Altpapierstapel beiseite und bedeute Cherry, einzutreten. Dann schnappe ich mir die Zahnbürste aus dem Bad und schlurfe in mein Zimmer. Cherry tritt vorsichtig ein. Während ich mich anziehe, späht sie in das
Weitere Kostenlose Bücher