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Love Alice

Love Alice

Titel: Love Alice Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nataly Elisabeth Savina
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vergesse sofort, wie sehr ich mich erschrocken habe.
    Ich darf also mit Cherry zum Karateunterricht. Natürlich nur zuschauen. Ich sitze auf der niedrigen Bank an der Wand des Karatestudios, das kaum einen Unterschied zu einer gewöhnlichen Turnhalle aufweist. Doch es ist das erste Mal, dass ich mich in einer solchen Halle wohlfühle. Der muffige Gummigeruch der Matten, die unbequemen Holzbänke und die am Rand gestapelten Turngeräte machen mir hier nichts aus. Das alles hat nichts mit dem Sportunterricht in der Schule zu tun. Meine Jacke liegt zusammengeknüllt neben mir, die Schuhe mussten wir vorne ausziehen. Ich drehe mein goldenes Herz, ein bisschen bin ich aufgeregt.
    Die Karateschüler stehen alle hochkonzentriert nebeneinander in einer Reihe, in der Hierarchie der Gürtelfarben, weiß, gelb, orange, grün, violett. Die Dritte von links ist Cherry, das einzige Mädchen im Kurs. Ihr Gürtel ist orange. Cherrys Karatelehrer ist ein junger Mann mit Glatze und einem schwarzen Gürtel. Sein Schädel ist länglich und glatt, ein wenig glänzend.
    Mir fällt plötzlich die Geschichte von einer Opernaufführung ein, die Mama mir erzählt hat. Jemand hatte viele Karten für Parterre eingekauft und seine glatzköpfigen Freunde eingeladen. Sie wurden so platziert, dass man von oben aus den Logen einen Stinkefinger daraus geformt sah. Beim Gedanken daran perlt ein glucksendes Lachen meine Kehle hoch. Ich schlucke es runter und presse meine Lippen aufeinander, um nicht den feierlichen Ernst der Karatestunde zu stören.
    Der Karatelehrer kniet sich hin. Cherry und die anderen Schüler knien sich ebenfalls hin, ihr Blick ist nach vorne gerichtet. Cherrys nackte Zehen sind blassgrün lackiert und leuchten auf dem Boden wie Bonbons. Die Schüler setzen sich auf ihre Unterschenkel. Der Karatelehrer sieht jeden aufmerksam an.
    »Mokuso!«, ruft er.
    Alle schließen die Augen und beginnen, zu meditieren. Ich überlege, einen Moment lang ebenfalls die Augen zu schließen, aber ich bin zu neugierig. Cherry atmet ruhig, sie ist ungewohnt bewegungslos. Ich sehe sie mir so genau an, wie es nur geht, ihre Haut, ihre langen Wimpern, ihre Schultern und Beine. Wenig später trainieren Cherry und die anderen den »Fauststoß zum Kopf«, während der Lehrer auf Japanisch zählt: »Eins, zwei, drei…« Cherry sieht zu mir und lächelt. Ich lächele zurück.
    »Eine richtige Faust, Cherry, ganz fest«, sagt der Lehrer und sieht sie so freundlich an, dass ich fast neidisch werde.
    Während sich Cherry vor dem Spind umzieht, stehe ich neben ihr und halte unsere Jacken. Cherry richtet sich auf und sieht an sich herab.
    »Ich glaube, ich kriege nie einen Busen.«
    »So ein Quatsch, jeder kriegt einen«, sage ich, obwohl ich mir nicht sicher bin.
    »Ja, aber deiner wächst schon und bei den anderen auch«, mault Cherry.
    Es überrascht mich, dass ihr diese Dinge wichtig sind.
    »Ich habe mal gelesen, dass man sie mit Eiswürfeln einreiben muss«, sage ich vertraulich.
    »So was machst du?«, fragt Cherry und dreht sich zu mir, um mir noch mal auf den Busen zu sehen.
    »So manchmal«, sage ich und schäme mich ein bisschen.
    Aber Cherry ist in ihren Gedanken schon woanders.
    »Na, ich will auch gar keinen. Muss ich bei der Prüfung wenigstens nicht den blöden Brustschutz tragen«, sagt sie trotzig.
    Sie holt ihre Mütze aus der Tasche heraus. Ich sehe ihr Heft mit der Ratte aufblitzen.
    »Darf ich?«
    Cherry stellt sich vor den Spiegel und öffnet einen kleinen Stoffbeutel, in dem sich ihre Schminksachen befinden. Sie wirft einen kurzen Blick auf mich und nickt. Ich nehme mir das Heft, lege es auf die Knie und schlage es auf. Während Cherry sich die Augen blau anmalt, sehe ich mir alte Postkarten und reingeklebte Zeitschriftenfetzen von bunten Werbebildern an, die sich mit vollgekritzelten Seiten abwechseln. Es ist kein richtiges Tagebuch und es sind keinerlei Zeichnungen drin. Ich sehe, dass Cherry ihre absurden Reime aufschreibt. Selbst die ganz kurzen. Zwischen den Zeilen kleben vereinzelt Sticker, eine Herzdame-Spielkarte und ganz hinten im Heft ein verblichenes Foto von Cherry als Baby in den Armen einer Frau, deren Gesicht nahezu ganz verblasst und mit Filzstiften übermalt ist. Ich hebe den Kopf, Cherry steht neben mir.
    »Ist sie schwer, deine Prüfung?«, frage ich.
    Cherry macht eine ausladende Kampfbewegung und lässt die Faust nah an mein Gesicht rasen.
    »Sie ist bald. Du musst unbedingt zuschauen kommen«, sagt sie.
    Ich nicke.

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