Love Alice
Wohnzimmer. Wir haben immer noch nicht fertig ausgepackt und das Chaos breitet sich unaufhaltsam aus. Zwischen Koffern, Taschen und Kisten liegen Mamas Abendkleider, Stolas und Schminksachen, einige Perücken, etwa hundert Paar Schuhe und noch mehr Schals, mit und ohne Glitzerfäden, für jeden Tag, für den Abend, für seriöse und für dramatische Auftritte. An einem Seidenschlauch baumelt noch ein hängengebliebener Ohrring.
Cherry staunt, als habe sie noch nie so ein Frauenchaos gesehen. Als sie sich unbeobachtet fühlt, fährt sie sanft mit der Hand über das rote Samtkleid, wie wenn sie ein seltenes Tier streicheln würde.
Heute gehen wir in eine Zoohandlung. Das hat sich Cherry ausgedacht. Spätestens seit wir dort sind, weiß ich, dass es keine Zufälle geben kann. Auf den oberen Regalen sind Plüschtiere aufgereiht, die wie lebendige Haustiere wirken sollen: Weiße Katzen und braune Hundewelpen. Ich erzähle Cherry, dass ich mal für genau so eine Plüschkatze gespart, aber nie geschafft habe, genug Geld zurückzulegen – etwas kam mir immer dazwischen. Mein Brutküken behalte ich natürlich für mich, ich will nicht als totaler Freak dastehen. Cherry hört mir bald sowieso nicht mehr zu. Sie will mir etwas zeigen.
In der Vitrine des Ladens steht ein gigantisches Aquarium mit riesigen, braunen Fischen mit einem Überbiss wie eine Bulldogge. Cherry scheinen die grobschlächtigen Dinger zu gefallen, aber ich finde den engen Gang ganz hinten spannender. Unterschiedlich große Käfige sind hier übereinandergestapelt, auf dem Boden liegt Streu. Es riecht lecker nach Holz und ein bisschen nach Apfel. Alles Mögliche an flauschigem Getier wuselt dort, Kaninchen, Meerschweinchen, Hamster und Mäuse. Ich finde sie gleichzeitig süß und mitleiderregend, wie sie da in den kleinen Käfigen hocken und kein Tageslicht sehen – bis sie jemand kauft. Hoffentlich jemand Nettes. Mäuse und Hamster haben ein knappes Leben, nur zwei Jahre. Ein Nacktmull zum Beispiel kann fast dreißig werden. Aber der ist hässlich, keiner würde ihn so lange zu Hause haben wollen.
Ein weißes Zierhuhn läuft frei herum und pickt Körner vom Boden auf. Ich muss an meinen Fasan denken und strecke die Hand aus, um das Zierhuhn zu streicheln. Der Zoohändler, ein älterer, hagerer Mann mit weißen, wirren Haaren, schlurft an mir vorbei und legt Karottenhapse in den Meerschweinchenkäfig. Er lächelt mir zu, gähnt und geht weiter zum nächsten Käfig. Ich nicke ein wenig, hoffe aber insgeheim, dass er bald weg ist und mich mit den Tieren alleine lässt. Einen Moment lang neigt das Zierhuhn den Kopf zärtlich in meine Hand, dann tapst es hinter dem Mann her.
Cherry steht immer noch vor dem Aquarium. »Kennst du die? Die sind ganz zahm, wenn man die Hand ins Wasser hält, kommen sie sofort«, sagt sie, als ich mich neben sie stelle.
Ich sehe mir die Fische genauer an. Aus ihren Mäulern ragen krumme Fischzähne. Cherry stupst mich an.
»Probier mal«, sagt sie.
Ich kremple meinen Ärmel hoch und tauche die Hand ins warme Wasser. Die Fische schwimmen rasch auf meine Hand zu und öffnen ihre Mäuler. Die Zähne sind viel größer und länger, als ich erwartet hätte.
»Ja, seid ihr denn verrückt!«, kreischt der Zoohändler hinter uns und der dickste Fisch schnappt nach meinen Fingern.
Ich piepse vor Schreck und ziehe meine Hand schnell zurück. Zwei weitere Fische schwimmen gierig hinterher, hopsen fast aus dem Wasser.
Cherry schiebt mich kichernd aus der Zoohandlung auf die Straße. Der Zoohändler läuft uns hinterher. Ich sehe, dass er keine Schuhe anhat, nur gelbe Socken. Verrückt.
»Was glaubt ihr, wer ihr seid?!«, schreit er uns nach, während wir wegrennen.
»Die waren nicht zahm, die waren bissig«, sage ich beleidigt, als wir wieder im Schritttempo laufen.
»Das waren Piranhas«, sagt Cherry stolz. »Aber du hast Kampfgeist und Selbstbeherrschung bewiesen.«
»Warum bist du so gemein?«, frage ich.
Ich kann sie nicht verstehen. Die Viecher hätten mir ein Stück Hand ausbeißen können!
»Weil du jetzt mitkommen kannst«, sagt Cherry geheimnisvoll. »Ich kann doch keinen Angsthasen mit zum Training nehmen.«
Cherry legt ihre Hand auf meine Hüfte. Ich bin mir sicher, dass sie das mit dem Training als Ablenkung ausgedacht hat, wie man ein kleines Kind ablenkt, wenn es sich wehgetan hat. Ich schüttele den Kopf. Dann beschließe ich aber, mich nicht länger zu ärgern. Schließlich sind es bloß Fische, denke ich, und
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