Love Alice
singen. In Dresden liegt kein Schnee, aber es herrscht Eiseskälte und wir wärmen uns die Hände an Papiertüten mit heißen Kastanien. Ich kann Mama sogar überreden, mir ein Lebkuchenherz zu kaufen – obwohl die so ungesund sind. Mama sucht eines aus, auf dem Deine Liebe lässt mich schweben steht.
Ihr Konzert ist ein voller Erfolg, und nachdem wir es diesmal sogar schaffen, Oma einen Besuch abzustatten und mit ihr durch alle ihre Lieblingsboutiquen zu fegen, kommen wir wieder in unsere möblierte Wohnung in der eisigen Stadt zurück.
Im Flur riecht es nach Holz und Wäsche. Ich hole mein Marmorei aus der Tasche. Ich habe es heimlich zum Brüten mitgehabt. Mama würde es nicht verstehen, aber ich konnte das Ei natürlich nicht so lange allein lassen.
Direkt nach dem Auspacken rufe ich Cherry an, die zum Glück zu Hause ist und Weihnachten genauso langweilig fand wie ich. Wir haben uns vor der Abreise heiß und innig versprochen, das nächste Weihnachten zusammen zu verbringen. Komme, was wolle. Damit das auch sicher klappt, haben wir es uns gleichzeitig um zwölf an Silvester gewünscht.
Wir verabreden uns ungefähr in der Mitte zwischen unseren Häusern, und da Mama sich »nur noch hinlegen und sonst nichts« möchte, rausche ich in Vorfreude auf Cherry aus dem Haus.
Wir machen uns sofort an die Arbeit und sammeln die weggeworfenen Tannenbäume, die vor den Häusern auf die Müllabfuhr warten, ein. Wir ziehen sie hinter uns her, in ein kleines Waldstück, das die Häuser von der Schnellstraße trennt. Die Tannen zeichnen Spuren in die verschneiten Wege, wie die Schleppe der Schneekönigin.
Dort geht es einige Meter hinauf, bis wir auf einem Hügel ankommen, von dem aus wir ziemlich weit schauen können. Über die Schnellstraße zum Einkaufszentrum hinüber. Der surrende Verkehr leuchtet unten mit den Scheinwerfern, manchmal hört man ein Hupen. Keiner auf der Straße bekommt etwas von uns mit, wir könnten auf dem Hügel ein Feuer machen und nackt drum herumtanzen, wenn wir wollten. Bald hören wir kaum noch das Dröhnen der Autos, der Wind übertönt alles.
Es sind etwa zehn Tannen, die wir in einem großen Dreieck um eine hohe Birke in der Mitte des Hügels drapieren. An manchen Bäumen hängt noch knittriges Lametta, manchmal leuchtet noch Glitzerspray an einem Ast oder Überreste von künstlichem Schnee. Die Tannen sind groß und sperrig. Gemeinsam wuchten wir sie hoch und lehnen sie gegeneinander. Zwischen den Tannen entsteht ein Hohlraum, eine Hütte, in der es nicht nur gemütlich, sondern auch wärmer als draußen ist. Mit den Lamettafetzen binden wir die Bäume zusammen, damit sie nicht umfallen. Als wir endlich fertig sind, sitzen wir in unserem Tannenhaus und starren auf das rot leuchtende Kaufhauslogo in der Ferne. Es ist neblig. Die Autos und die Menschen schwimmen gespenstisch fern im abendlichen Dunst.
»Ich habe Durst«, sagt Cherry. »Wir brauchen einen Vorrat.«
Von da an kommen wir, so oft wir können, hierher und bleiben, so lange wir können.
»Wenn ich hier bin, kommt mir alles andere unecht vor«, sage ich an einem dieser Tage zu Cherry.
»Dann musst du immer hier sein«, sagt Cherry.
»Ohne dich ist es auch unecht«, sage ich.
Ich muss an ihr Heft mit den Gedichten denken. Hat sie schon etwas über mich gedichtet? Vielleicht bin ich der Kakadu in dem letzten Reim? »Der Kakadu, wir sind per du, der schönste Vogel in der Nähe, mit Schleife und der schiefen Klaue, an der ich gerne kaue.«
Ich habe natürlich keine schiefe Klaue, aber wer weiß. Noch traue ich mich nicht, zu fragen. Cherry hatte mich bereits mehrmals daran erinnert, eine Zeichnung für sie zu machen. Aber mir fällt partout nicht ein, was es sein könnte. Es sollte schließlich etwas Besonderes sein, und mein Gefühl, eine mittelmäßige Zeichnerin zu sein, steht mir im Weg. Ich ziehe Cherry an der Jacke, um sie an mich zu drücken. Cherry stößt mich sanft von sich.
»He, keine Panik, ich bin doch da«, sagt sie.
Während ich fort bin, trinkt Mama ihren unerlässlichen heißen Tee in der Küche. Sie will ihren Lieblingshaufen ungeordneter Zeitungen sortieren, als es klingelt. Sie wartet bereits auf mich. In den Zeitungen wird erneut über ein Mädchen berichtet, das verschwunden ist. Das Wort Gewaltverbrechen ist in Fettschrift gedruckt. Mama ist unruhig, aber sie hat auch keine Lust, sich hineinzusteigern. Sie geht an die Tür und ärgert sich darüber, dass ich offenbar wieder ohne Schlüssel losgezogen
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