Love Alice
nicht kapieren, wenn es ernst wird«, sagt sie.
Cherry fängt an, Andy nachzumachen. Sie überfällt mich und betatscht mich überall, während ich mich vor Lachen winde. Sie spricht mit einer verstellt tiefen Stimme und keucht, wenn ich mich gegen ihre Griffe wehre. »Komm, hab dich nicht so, Nesrin fand es auch gut!«, lacht sie.
Ich rolle mich im Schnee, bis Cherry mich überwältigt und auf den Boden drückt. Dabei lande ich mit dem Kopf auf der geheimen Stelle.
»Vorsicht …«, keuche ich und Cherry lässt mich sofort los.
Ich rappele mich hoch und fühle mich wie ein eingerosteter Roboter. Die Abenddunkelheit setzt ein. Ich sehe vorsichtshalber auf mein Handy, habe aber keine Anrufe verpasst.
»Ich hab gleich Karate«, sagt Cherry.
Ich beschließe, zu Hause ein Bad zu nehmen, damit meine Knochen wieder warm und beweglich werden, und frage Cherry: »Hast du eigentlich keine Angst, immer alleine heimzulaufen?«
Cherry zuckt die Schultern. »Ich kann ja den Bus nehmen«, sagt sie.
»Mach das, wirklich«, sage ich.
Cherry schaut mich an. Sie nickt.
Aber Cherry läuft nach Hause, als ihr Kurs vorbei ist. Sie hat keine Lust auf die Leute im Bus, keine Lust, auf den Bus zu warten, und keine Lust, ohne mich Bus zu fahren. Sie möchte ihre Beine spüren, möchte die Kiefern und die Tannen riechen, möchte das Knacken im Geäst hören und sich vorstellen, dass es Musik ist, die der Forst einzig für sie spielt. Eine Melodie, die der Wald nur für sie aufführt, weil sie schnell ist und stark und keine Angst vor der Dunkelheit hat.
Ich bin zu dieser Stunde längst in meinem Zimmer. Ich sitze auf meinem Nest und spüre, dass es genau jetzt so weit ist. Um den großen Moment überzeugend zu gestalten, knipse ich meine Nachttischlampe mehrmals aus und an und mache tiefe Stöhngeräusche. Als es nach einer Weile albern wird, greife ich endlich unter mich und ziehe meinen Plüschvogel langsam zwischen meinen Beinen hervor. Über dem ganzen Ausbrüten habe ich fast vergessen, wie er aussieht.
»Hallo«, sage ich. Geschlüpft!
Ich sehe ihn mir genau an. Das zottelige Fell ist blau, die Lider sind mit gelbem Samt eingefasst und die großen Augen kullern lieb und verrückt in verschiedene Richtungen hin und her. Der Vogelkörper sieht aus wie ein aufgeblasener Fahrradsattel, unter dem runden Bauch hat er gelbe, flatschige Fußflossen. Ich erhebe mich feierlich und drehe mich heftig im Kreis, den Vogel in der Hand, den Arm weit ausgestreckt. Meine Füße versinken in meiner Daunendecke auf der weichen Matratze.
»Flieg, mein Baby, flieg!«, flüstere ich, und während der Vogel in einem Halbkreis um meinen Körper rast, drehe ich mich immer und immer weiter. Als mir schwindelig wird, lasse ich mich wieder auf das Bett fallen. Unter der Decke drücke ich den Vogel wie einen Teddybären an mich und betrachte ihn wie eine Mutter ihr Neugeborenes.
»Hallo … Ich habe so was von lange auf dich gewartet«, sage ich zärtlich und leise.
Eines Tages bringt mich Cherry zu einem Ort, an dem wir noch nie waren. Sie läuft schnell vor mir her, und ich spüre, wie sehr sie sich freut, mir etwas Neues zu zeigen.
Unsere Schneeanzüge rascheln im Gleichschritt. Ich habe ihr das rote Haar zum Zopf geflochten, der sich unter ihrer Mütze wie ein roter Pfeil im Rhythmus ihrer Schritte auf dem Rücken schlängelt. Unser Weg führt an einer Neubausiedlung vorbei, auf der anderen Seite ist dichtes Gebüsch gepflanzt. Das meterhohe Gestrüpp reicht bis an die Bahngleise. Plötzlich donnert eine S-Bahn vorbei. Cherry bleibt stehen. Mitten im tosenden Gedröhne schnappt sie meine Hand und zieht mich ins Dickicht.
Ein schmaler Pfad verrät, dass wir hier nicht die Ersten sind. Wie Polyester-Warane im Schnee kriechen wir schnaufend zwischen den dornigen Ästen zum Gleisdamm hinauf, dicht am Boden, vom Weg unsichtbar. Nach ein paar Metern hört das Gestrüpp auf. Wir kommen direkt bei den Gleisen raus.
Die Schienen riechen nach verkohltem Schotter und Benzin. Es ist unglaublich still und der Schnee ist das einzig Helle an diesem Ort. Seitlich von uns, ich kann es kaum erkennen, liegt jemand oder etwas. Ich kann einen Schreckschrei nicht unterdrücken. Cherry fährt herum und presst mir die Hand auf den Mund.
»Pscht! Spinnst du?«, zischt sie und duckt sich.
»Der Schnee da sieht aus wie eine Leiche«, sage ich keuchend, atemlos vor Schreck.
Cherry folgt meinem Blick und fixiert den Schneehügel, der wie ein kauernder Mensch
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