Love Alice
»Versprochen.«
Das Studio hat längst geschlossen, aber Cherry und ich hocken immer noch auf den Stufen vor dem Eingang, die Knie angezogen wie zwei Vögel auf den Leiterseilen. Unser Gespräch plätschert wie warmer Jasmintee. Obschon mir klar ist, dass ich längst zu Hause sein müsste, wünsche ich mir, der Abend würde niemals enden.
»Ich fänd’s toll, mit deiner Mutter zusammenzuwohnen«, sagt Cherry. »Sie ist eine richtige Frau.«
»Wo ist deine Mutter?«, frage ich.
»Sie ist fort«, sagt Cherry.
»Mein Vater auch«, sage ich.
Ich erzähle Cherry, wie meine Mutter mich bekommen hat, obwohl sie genau wusste, dass sie nie mit meinem Vater zusammen sein würde. Ich bin ihr »Liebessouvenir«. Ich finde das ätzend – genauso wie die dubiose Abmachung meiner Eltern, dass ich meinen Vater erst mit sechzehn kontaktieren kann. Cherry erzählt, dass ihr Vater Schiffsmechaniker war, als er noch gearbeitet hat. Er hat ihre Mutter auf einer Überseereise kennengelernt.
»Meine Mutter hat mir das hier vererbt«, sagt Cherry und hält mir ihr Heft vors Gesicht. »Es war ihr Heft und sie wollte da etwas reinschreiben. Über mich vielleicht, wie ich wachse und so was. Sie ist an Krebs gestorben, da war ich noch ganz klein. Seitdem fahren wir nicht mehr zum Meer. Papa meint, ihn erinnert dort alles an sie.«
Mir läuft es kalt den Rücken hinunter. Wenn ich das gewusst hätte, hätte ich vermutlich gar nicht erst davon angefangen.
»Und du?«, frage ich.
Cherry legt den Kopf auf meine Schulter. Sie sieht verträumt in die Ferne, ihre getuschten Wimpern werfen lange Schatten über ihre blassen Wangen.
»Mit dir würde ich hinfahren«, sagt sie.
Eine Weile sitzen wir still da. Cherry kuschelt sich an mich. Ihr rotes Haar riecht nach Tannen und Karamell. Ich blättere in ihren Gedichten und achte darauf, mich nicht zu bewegen. Cherry ist wie eine Katze, die es sich gerade bequem gemacht hat und sich bei kleinster Erschütterung zurückziehen würde. Ich blättere wieder zu dem Babyfoto von Cherry in den Armen ihrer Mutter. Das Gesicht der Mutter ist überbelichtet, die helle Stelle ist mit Filzstiften ausgemalt. Weizengelbe Haare und ein rosa Herzmund. Die Augen mit fünf langen schwarzen Wimpernstrichen geschlossen.
»Ich weiß noch, dass sie schön aussah«, sagt Cherry, ohne hinzusehen. Mit fällt ein, wie ich in der Schule sagte, meine Mutter würde dauernd auf der Bühne sterben. Obwohl es stimmt, kommt es mir jetzt so vor, als habe ich eine Grenze verletzt, die weit über meinen Vorstellungen liegt. Der bloße Gedanke an den wirklichen Tod meiner eigenen Mutter erfüllt mich mit übelster Panik und ich ersticke ihn schon im Keim.
»Hast du noch andere Fotos von ihr?«, frage ich.
»Nur welche, wo sie schon krank ist. Da ist sie weiß und dünn wie eine Tote. Hat keine Haare, lächelt immer tapfer«, sagt Cherry und richtet sich auf.
»Weißt du, früher hat man das immer so gemacht, die Schwarz-Weiß-Fotos mit Farbe bemalt, damit sie echt aussehen«, sagt sie.
»Koloriert«, nicke ich.
»Zeichne mir mal was rein«, sagt Cherry. »Zur Erinnerung.«
Bereits an der Tür spürt Mama, dass ich nicht zu Hause bin. Sie macht das Licht in der dunklen Wohnung an und sucht mich. »Dodo? Ich muss gleich noch mal weg!«, ruft sie, aber niemand antwortet. »Alice? Alice?!«, hallt nur ihre Stimme in der leeren Wohnung. Der Artikel, den sie neulich in der Zeitung gelesen hat, macht ihr Angst. Nachdem ich nicht auf ihre Anrufe reagiere, sucht Mama die Adresse von Kristins Vater auf meiner Klassenliste.
Als Mama ihn mit dem Wagen abholt, stellt er sich ihr als Micha vor und zieht seine Strickmütze über. Kopfkondom, urteilt Mama innerlich, sie hasst diese Mützen. Mama hat das bedrückende Gefühl, eine Erkältung zu bekommen. Bestimmt vor Stress, denkt sie. Sie wickelt sich ihren Paschmina fest um den Hals und meckert die ganze Fahrt darüber, dass Micha seine Tochter nicht im Griff habe.
»Warum hat sie kein Mobiltelefon?!«
»Weil man davon Krebs bekommt. Sie braucht kein Handy«, sagt Micha.
Als die Scheiben anfangen zu beschlagen, macht Mama demonstrativ das Fenster auf Michas Seite auf. »Alice wird von Kristin definitiv negativ beeinflusst!«, schimpft sie.
»Ach was«, sagt Micha. »Die Mädchen haben sich eben gern.«
»Alice ist vierzehn! Sie soll nicht jemanden mitten in der Nacht gern haben!«, sagt Mama.
Und als Micha sagt, dass seine Tochter wisse, was sie tue, antwortet sie:
»Ach
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