Love Alice
mehr ohne sie zu sein.
Als ich klein war, war ich immer müde, habe ständig darauf gewartet, dass Mama fertig wird und wir nach Hause können – wo auch immer wir waren. Ich bin über meinen Hausaufgaben eingeschlafen und beim Fernsehen. Ich konnte schlafen wie auf Befehl, ich fand sogar, dass Schlafen interessanter sei als das Leben im wachen Zustand. Ich träumte verrückte Dinge, immer und stets in Farbe, und manchmal konnte ich fliegen. Hier am Teich wird mir klar, dass ich mit Cherry reden kann, ohne zu sprechen. Dass mit ihr zusammen alles möglich ist. Mit Cherry bin ich in der Realität angekommen, neugierig auf jeden Tag, den ich mit ihr zusammen verbringe. Ich hole eines der Gläser heraus und gebe es ihr.
»Gleich hast du deine Haustiere«, sage ich.
Cherry späht mit zusammengekniffenen Augen auf das Wasser, das in der Sonne glitzert, und auf den Schaum um die schleimigen Inseln des Froschlaichs.
»Man kann sehen, wie die Kaulquappen schlüpfen und größer werden«, sage ich. »Irgendwann müssen sie wieder zurück in ihren Teich.«
Unter Cherrys skeptischen Blicken beuge ich mich möglichst weit über die Uferböschung und versuche, mit dem Glas einen Klumpen Froschlaich einzufangen. Dabei halte ich mich, so gut es geht, an den langen Grashalmen fest, die mir kalt und glitschig in die Finger schneiden. Ein erbeutetes Stück Froschlaich flutscht wieder heraus, als ich mehr holen möchte.
Ich beuge mich weiter vor und kann mich nicht mehr halten. Das Glas umklammert, fühle ich, wie der Boden unter meinen Füßen verschwindet, und rutsche ins Wasser, mitten in den Froschschleim.
»Na, Bombe«, sagt Cherry hinter mir.
Mein angeekeltes Kreischen ist bestimmt kilometerweit zu hören. Cherry reicht mir das zweite Glas. Jetzt, wo ich schon mal mitten im Froschlaich stehe, fülle ich es fast bis zum Anschlag.
Auf dem Weg zurück matschen meine Socken mit grünem Schleim in den Stiefeln, die Jeans kleben an meinen Waden. Ich versuche, mich auf andere Dinge zu konzentrieren, um nicht komplett auszurasten. Cherry trägt die Gläser und sieht immer wieder von oben hinein. Die glibberigen Froscheier sind noch ganz fest, die schwarzen Punkte darin ganz klein. Damit Mama uns so nicht sieht, gehen wir zu Cherry.
Micha ist nicht zu Hause. Cherry reißt die Fenster auf, der muffige Geruch in der Wohnung zieht dahin. Im Flur entdecke ich vier Plastiktüten mit leeren Bierflaschen, die nach Hefe und nasser Zigarettenasche riechen. Cherry ignoriert meinen Blick. Ich lege meine nassen Schuhe und Socken daneben. Überall in der Wohnung liegen Bücher, ein paar Aschenbecher stehen herum. Im Durchgang zur Küche erspähe ich eine Kolonne leerer Schnapsflaschen, eine kopflose Armee ohne Befehlshaber. Ohne dass ich frage, sagt Cherry:
»Die muss ich noch wegbringen.«
Ich trete auf eine Schachfigur, die schwarze Dame, die auf dem Boden liegt. Auf einem Hocker liegt das Brett.
»Er ist heute den ganzen Tag weg«, sagt Cherry.
Die Mehrzahl der Schachfiguren liegt auf dem Teppich verstreut. Ich stelle die Königin und ein paar weitere Spielfiguren zurück auf das Brett.
Cherry schmeißt ihre Jacke auf den Boden und zieht sich im Gehen aus. Ihre Kleider lässt sie hinter sich auf die verschiedenen Bücherstapel fallen. Ich mache es ihr nach und folge ihr ins Badezimmer.
Wir stellen uns in die runde Duschkabine und schieben die Tür zu. Das Wasser prasselt heiß auf uns herab. Ich mache einen runden Rücken und lasse ihn warm werden. Die Gänsehaut an Cherrys Oberschenkeln glättet sich, ihre Beine und Arme färben sich rot. Dampf steigt auf. Ich richte mich wieder auf, direkt unter den Wasserstrahl, halte die Augen zusammengepresst und schnappe nach Luft. Ich trinke das heiße Wasser, es schmeckt süßlich. Dann sehe ich Cherry an, ihr Gesicht ist auch rot, ihre Wimperntusche läuft über ihre Wangen. Cherry blinzelt unter den Tropfen und legt ihre Hand auf meinen Busen. Ich verschlucke mich und trete einen Schritt auf sie zu. Cherry zieht ihre Hand weg und grinst. Unsere Zehen werden schrumpelig. Als das Wasser irgendwann lauwarm wird, dreht Cherry schnell den Wasserhahn zu.
Wir legen eine farbige Landschaft aus alten Wolldecken und Handtüchern auf den Boden im Wohnzimmer. Schwere altmodische Möbel und die bräunliche Tapete machen das Zimmer klein, aber gemütlich. Wir stellen unsere Gläser, voll mit Froschlaich, auf dem Sofatischchen ab. Cherry holt ein paar Zimmerpflanzen, die wir drum
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