Love Train
komisches Gefühl, als wir gegen 23 Uhr im Dunkeln an der Gare dâAusterlitz ankamen. Nachts unterwegs zu sein, erfüllte mich mit einer kribbelnden Aufregung.
»Wie gemütlich«, entfuhr es mir beim Anblick des GroÃraumabteils mit den sogenannten Ruhesesseln. Die beige bezogenen Sitze sahen aus, wie ganz normale Bahnsitze eben aussehen, nur hatten sie eine Funktion, mit der man sie in eine halb liegende Position bringen konnte. Einige unserer Mitreisenden waren gerade dabei, diese Liegefunktion zu testen, was dazu führte, dass man sich dahinter kaum hinsetzen konnte.
Wir zwängten uns auf unsere Plätze, und ich fing an zu überlegen, wo ich meine Beine unterbringen sollte. Die einzige Option, die sich mir bot, war ein schmales, ausklappbares FuÃbänkchen an der Rückenlehne des Sitzes vor mir. Mir war sofort klar, dass ich so vermutlich nicht würde schlafen können. Es ist nämlich so: Wenn ich müde bin, fangen meine Beine schrecklich an zu kribbeln, und ich werde total hibbelig, wenn ich mich nicht irgendwo ausstrecken kann.
Juli schien hingegen keine Probleme mit diesen Ruhesesseln zu haben. Kaum hatten wir den Pariser Bahnhof verlassen, drehte sie sich zum Fenster, stopfte ihre Handtasche unter den Kopf, und nach wenigen Minuten hob und senkte ihr Rücken sich sanft im Rhythmus ihrer gleichmäÃigen Atmung. Meine Schwester war eingepennt. Und wenn Juli einmal schläft, dann schläft sie tief. Bewundernswert.
Ich hingegen fand, wie schon erwartet, keine einzige bequeme Position, in der an Schlaf auch nur zu denken gewesen wäre. Doch das Schlimmste waren nicht diese Sessel, sondern eine deutsche Reisegruppe am anderen Ende des GroÃraumabteils, die beschlossen hatte, die Nacht zum Tage zu machen, und deren Mitglieder sich so lautstark unterhielten, dass es vermutlich auch noch die Reisenden in allen anderen Zugabteilen hören konnten. Gelegentlich beschwerte sich mal jemand, aber das schien sie nicht zu stören, im Gegenteil, es heizte die Gesprächslautstärke eher noch an. Selbst mit meinem iPod in den Ohren konnte ich fast jedes Wort verstehen, und weil es Deutsch war, konnte ich auch nicht wirklich weghören, obwohl ich das bei den geistlosen Dialogen gern getan hätte! So viel zum Thema »Ruhesessel«.
Ich vertrieb mir die Nacht damit, Tagebuch zu schreiben, zu lesen und Musik zu hören. Zwischendurch starrte ich durch die türkisen Faltgardinen in die vorbeiziehende Dunkelheit, und vielleicht habe ich sogar eine Weile gedöst, aber ich fühlte mich wie gerädert, als der Zug am nächsten Morgen wenige Minuten vor sechs in unseren Umsteigebahnhof kurz vor der französisch-schweizerischen Grenze einfuhr. Juli hingegen musste ich aus dem Tiefschlaf wecken, damit wir rechtzeitig aussteigen konnten.
Mit einem Bummelzug, der an jeder Mülltonne zu halten schien, ging es weiter nach Genf. Immerhin tröstete mich das schöne Alpenpanorama ein wenig über meine schlaflose Nacht hinweg. Trotzdem fielen mir fast die Augen zu. Juli hingegen war bester Laune.
»Jetzt können wir sagen, dass wir in der Schweiz waren«, freute sie sich, als wir am Bahnhof in Genf umstiegen. »Auch wenn unsere FüÃe nur dreizehn Minuten lang schweizerischen Boden berührt haben.« Ich nickte nur müde, denn ich war zu schlapp, um den Mund aufzumachen.
Dann saÃen wir im Eurocity nach Mailand, und Juli lackierte ihre Fingernägel, während ich versuchte, noch ein paar Sätze in mein Tagebuch zu schreiben â aber darüber muss ich dann wohl doch eingeschlafen sein.
Ich erwachte mit hämmernden Kopfschmerzen, und mein schiefer Nacken fühlte sich so steif an, dass ich mir nicht sicher war, ob ich den Kopf je wieder würde gerade halten können. Es dauerte ein paar Sekunden, bis ich begriff, wo ich mich befand (nämlich im Zug nach Mailand), und dann dauerte es noch ein paar weitere, bis ich merkte, dass etwas fehlte. Meine Hände strichen suchend über meine Beine. Ich war mir ganz sicher, dass ich das Tagebuch nicht in meinen Rucksack gesteckt, sondern dass es in meinem Schoà gelegen hatte, als ich nur mal ganz kurz die Augen zumachen wollte. Aber wo war es jetzt?
Eine kleine Panikwelle überrollte mich, doch im selben Augenblick entdeckte ich die rote Kladde â auf Julis SchoÃ!
»Gib das her«, kreischte ich und riss meiner Schwester meinen wertvollsten Besitz so heftig aus
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