Love Train
(der endlich aufgehört hatte zu kläffen und jetzt die Zunge halb aus dem Maul hängen lieÃ), aber mit der Geschwindigkeit von Julis Stimmungswechseln kam ich gerade nicht mehr mit.
»Ich meine es ernst«, betonte sie. »Du hast das drauf mit dem Schreiben.«
Aha.
»Es ist natürlich schon ziemlich fies, was du über mich schreibst. Oder über Tobi. Anfangs war ich total sauer, als ich es gelesen habe â¦Â«
Aha.
»Aber dann habe ich dauernd lachen müssen, weil du alles so treffend beschrieben hast, unsere ganze Reise. Ich war wirklich beeindruckt.«
Aha.
»Und auch das, was du sonst so schreibst, deine Gedanken und Gefühle, das ist alles so ⦠echt!«
Aha.
»Lena«, sagte Juli und lehnte sich in ihrem Sitz vor. »Ich finde, du hast wirklich Talent. Du solltest mehr daraus machen!« Sie grinste breit. »Was meinst du?«
Ich starrte meine Schwester bloà völlig perplex an und konnte mich nicht entscheiden, ob ich sie küssen oder ihr die Augen auskratzen sollte. In meinem Kopf hämmerten noch immer die Schmerzen und in meiner Brust tobte ein Tornado der unterschiedlichsten Gefühle.
Einerseits war ich immer noch wütend, sogar schrecklich wütend.
Aber andererseits â¦
Andererseits war ich überrascht über ihr groÃes Lob. Wenn Juli darüber hinwegsehen konnte, was ich Fieses über sie geschrieben hatte, weil sie meine Texte trotzdem richtig gut fand, dann erfüllte mich das mit einem kleinen Fünkchen Stolz. Na ja, ehrlich gesagt war es eine ordentliche Flamme, die zwar noch bedenklich im Sturm der negativen Gefühle flackerte, aber unauslöschlich loderte und mich nach und nach mit Wärme erfüllte. Auch wenn ich gerne schrieb, plagten mich immer Selbstzweifel, ob mein Geschreibsel nicht völlig belanglos war. Aber ausgerechnet die Person, von der ich die schärfste Kritik erwartet hätte, hatte meine Texte für gut befunden. Das musste ich erst mal verdauen.
Ich spürte den altbekannten Kloà in meinem Hals, Tränen, die in meiner Brust aufstiegen, um sich ihren Weg durch die Augen nach drauÃen zu bahnen. Aber jetzt vor Juli loszuheulen, war das Allerletzte, was ich wollte.
»Ich muss mal aufs Klo«, presste ich hervor, schnappte mir meinen Rucksack und quetschte mich an der alten Dame, die uns immer noch missbilligend beobachtete, vorbei aus der Abteiltür.
Die Zugtoilette war ein wenig einladender Ort, aber ich wusste nicht, wo ich mich sonst hätte verkriechen sollen. Ich sperrte die Tür zu, hockte mich auf den runtergeklappten Klodeckel und versuchte, flach durch den Mund zu atmen â meine Nase war nach fünf Minuten heulen sowieso dicht â, und kramte schlieÃlich mein Tagebuch hervor. Wahllos blätterte ich durch die Seiten und las hier und da einzelne Textschnipsel. Julia fand, sie seien lustig. Und echt. Ich spürte, wie mich ein aufgeregtes Kribbeln durchströmte.
Dann erreichte ich das Ende meiner Aufzeichnungen, aber etwas brachte mich dazu weiterzublättern, bis ich zu den letzten Seiten des Tagebuchs kam. Und meine Wut verpuffte einfach.
Juli hatte sich die Kladde tatsächlich â auch â geborgt, um zu zeichnen. Und das, was sie zu Papier gebracht hatte, war umwerfend. Ãhnlich wie die Zeichnung, die der Modestudent Auguste im Zug von Calais nach Paris von Juli angefertigt hatte, hatte Juli mit wenigen Strichen ihre Models skizziert. Diese trugen, soweit ich das beurteilen konnte, eine ausgefallene Kollektion von Sommerkleidern mit modischen asymmetrischen Schnitten, doch das eigentlich Besondere waren die Muster der Stoffe, denen Juli sich mit groÃer Genauigkeit gewidmet hatte.
Sie alle zeigten Motive aus den Städten, die wir bisher bereist hatten: den Eiffelturm, der sich filigran von der Taille bis zur Schulter reckte und dort in einer Raffung endete, die an einen Kussmund erinnerte. Einen Londoner Doppeldeckerbus, der quer über das Kleid fuhr und dabei eine Reifenspur wie einen Gürtel hinterlieÃ. Einen Tulpenrock in Erinnerung an Amsterdam, den Juli wie eine Tulpenblüte gestaltet hatte und deren Stiel und Blätter sich über das Oberteil rankten. Obwohl ich von Mode nichts verstand, war ich hingerissen!
Und noch etwas wurde mir klar: Juli hatte verbotenerweise in mein Innerstes geblickt, indem sie mein Tagebuch gelesen hatte. Aber jetzt hatte ich genau dasselbe getan, denn diese Entwürfe waren
Weitere Kostenlose Bücher