Love you, hate you, miss you: Roman (German Edition)
geöffnet.
Wenn Patrick seine Hände auf meine gelegt und mich zu trösten versucht hätte, dann hätte ich ihn geschlagen. Wenn er etwas gesagt hätte – egal, was – hätte ich ihn geschlagen. Wenn er irgendwas in der Art gemacht hätte, dann wäre es … damit hätte ich umgehen können. Tausendmal hatte ich erlebt, wie meine Hände berührt worden waren, tröstend berührt, mitfühlend – von meinen Eltern, meinen dummen Therapeuten in Pinewood, die alle »zu mir durchdringen« wollten.
Aber Patrick sah mich nur an.
Er schaute mich an und ich sah, dass er mich gar nicht dahaben wollte, dass ich ihn störte, hier, in seinem Haus, seinem Zimmer, seiner Privatsphäre. Er schaute mich an und ich wusste, dass er mich weghaben wollte, verzweifelt weghaben wollte, so sehr, dass es ihm Angst machte. Dass er wusste, was es heißt, jeden Tag aufzuwachen, in einem Leben, das man nie gewollt hat, das man sich nie hätte vorstellen können, und trotzdem hat man es.
Ich wollte immer so schnell erwachsen werden. Als kleines Mädchen konnte ich es kaum erwarten, endlich in die Highschool zu kommen. Und sobald ich dort war, wollte ich das alles nur noch hinter mich bringen, wollte in die wirkliche Welt hinaus, die wahre, und darin leben.
Nur leider gibt es diese Welt gar nicht. Erwachsenwerden heißt letztlich nichts anderes, als zu begreifen, dass niemand kommt und alles in Ordnung bringt. Niemand kommt und rettet dich.
Ich legte eine Hand auf Patricks Hals. Handfläche nach unten, auf seiner Haut ruhend. Er atmete und ich spürte das Heben und Senken seines Atems an meiner Hand. Ich bohrte meine Finger ein bisschen hinein, krümmte sie. Haut ist so verletzlich.
Der ganze Körper … das dürfte nicht so sein. Ein Körper dürfte nicht so leicht zerstörbar sein. Aber es ist so und in Patricks Augen sah ich, dass er auch das verstand. Ich ließ meine Hand hochgleiten, legte sie auf seine Lippen, und dann nahm ich sie weg und drückte stattdessen meinen Mund darauf.
Im selben Moment, als ich das machte, wusste ich, was passieren würde. Es hatte damals in jener Nacht begonnen, als Julia noch da war, und ich hatte es einfach verdrängt. Ich hatte mir eingeredet, dass nichts gewesen sei, aber das stimmte nicht.
Ich drückte meinen Mund auf seinen, weil Patrick anders reagiert hatte, als ich dachte, weil er nicht den Versuch gemacht hatte, mich zu trösten. Ich berührte seinen Mund mit meinem, weil er nicht sagte, dass ich ihm leidtat, dass ihm leidtat, was mir passiert war. Ich berührte seinen Mund mit meinem, weil er alles verstand.
Und vor allem, weil ich es wollte. Ich küsste ihn und diesmal lief ich nicht weg.
Patrick riecht nach Herbstblättern, nach den braunorangenen, die einem beim Gehen um die Füße wirbeln oder ins Gesicht wehen und nach Sonnenschein und Erde duften. Seine Haut ist kühl und blass und ich zeichneteseinen Rücken mit den Fingern nach, kartografierte das Spiel der Muskeln unter seiner Haut. Ich spürte seinen Mund auf meinem. Seine Hände auf meiner Haut. Er hat eine Narbe am Bauch, rund und weiß, die sich an eine seiner Rippen schmiegt. Sie fühlt sich glatt an.
Ich weiß das alles und es wird mir jetzt nie mehr aus dem Kopf gehen.
Hinterher lag ich da, die Augen geschlossen, spürte, wie sein Mund über meinen geisterte, und ich … Ich weiß nicht, es ging mir einfach gut.
Es ging mir gut und das war ein Zustand, den ich nicht zulassen konnte. Ich stand auf, packte meinen Körper wieder in meine Kleider ein und schüttelte den Kopf, dass mir die Haare übers Gesicht fielen. Seit Julia tot ist, sind sie nicht mehr geschnitten worden.
Patrick war schon angezogen, als ich endlich zu ihm hinüberschaute; sein Kopf tauchte aus dem T-Shirt auf, die Wangenknochen mit einem roten Hauch überzogen. Als er sah, dass ich ihn anstarrte, vertiefte sich das Rot und breitete sich über sein ganzes Gesicht aus. Ich öffnete den Mund, dann klappte ich ihn wieder zu. Patrick machte dasselbe.
Ich verließ sein Zimmer, schloss die Tür hinter mir. Ich schaute nicht zurück, kein einziges Mal, aber ich ging in einer seltsamen Stimmung nach Hause, als hätte ich gerade einen Teil von mir verloren, als sei ein Teil von mir noch bei ihm.
War es Julia mit Kevin auch so gegangen? Hatte sie dasselbe gefühlt? Hat sie Kevin vor sich gesehen, wennsie die Augen schloss? Ihn auch dann gesehen, wenn er nicht da war? Wie konnte sie das ertragen? Und warum sollte sie das wollen?
Wenn Julia doch nur da
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