Love you, hate you, miss you: Roman (German Edition)
ungezwungen an.
Ich hätte ihn noch mal anrufen und ihm sagen sollen, dass ich es mir anders überlegt hätte. Sollte, hätte, hätte sollte. Stattdessen blätterte ich im Schüler-Adressbuch, das auf dem Schreibtisch der Krankenschwester lag, und notierte mir eine Adresse. Patrick wohnt in Meadows Hill, drüben beim Golfstrom.
Ich nahm den Bus dorthin. Sein Haus war wie alle anderen in der Straße – große weiße Säulen und ein farbiges Fenster über der Haustür. Eine Frau brüllte »Herein«, als ich klopfte.
Aber es war niemand zu sehen, als ich eintrat, nur der Fernseher in dem Zimmer direkt vor mir lief und dahinter konnte ich eine Küche erkennen, mit so einem falschen Marmorboden (in Wahrheit war es Linoleum), von dem Julias Mom immer geschwärmt hatte. (Und Julia hatte recht, es sieht grässlich aus.)
Gleich rechts von mir lag eine unterbrochene Treppe, wie man sie in Häusern sieht, die über drei Stockwerke gehen. Der obere Teil war mit einem Kindergitter versperrt. Der untere Teil führte in den Flur.
»Ich dachte, du kommst erst nach sechs!« Wieder die Frau, immer noch brüllend, und bevor ich etwas sagen konnte, schrie sie weiter: »Ich hab Milton in der Wanne, Wendy, also geh gleich runter und hilf Patrick, die Räder rauszubringen. Er ist extra früher heimgekommen, um sie fertig zu machen.«
Ich ging die Treppe runter und klopfte nicht an, bevor ich die Türen dort aufmachte. Die erste führte in einen Wäscheraum, der zweite Raum war mit Krankenhausutensilienvollgestopft: Gitterbett, Rollstuhl, ein Lauflerngerät, wie man es manchmal in Medizinsendungen sieht, wenn der große Moment gezeigt wird, in dem ein Unfallopfer wieder gehen lernt.
Der dritte Raum war Patricks Zimmer und Patrick saß auf seinem Bett, oder vielmehr auf einer Matratze, die direkt am Boden lag. Sein Zimmer war das totale Chaos: überall Klamotten, Bücher und CDs, sodass ich kaum die Tür aufdrücken konnte. Als sie endlich aufging, stand ich nur da und starrte ihn an, starrte auf Patrick, der im Schneidersitz über seinem Laptop kauerte.
Er schaute nicht auf und nach einer Weile sagte er: »Ich weiß, ich hab versprochen, dass ich die Räder rausbringe und dir bei Dad helfe, bevor Wendy rüberkommt, aber ich hatte so einen miesen Tag.« Mir fielen tausend Gemeinheiten ein, die ich ihm an den Kopf werfen könnte, zum Beispiel »Ja, klar, muss verdammt hart sein, wenn man einfach aus der Klasse abhauen kann, ohne dass man dafür bestraft wird«, oder »Hat dir schon mal jemand gesagt, was für ein Loser du bist?«, aber stattdessen stand ich nur da, bis Patrick endlich aufschaute und »Amy?« sagte und aufstand.
»Du hast doch keine Ahnung, was in mir vorgeht«, stieß ich ohne Einleitung hervor und er starrte mich einen Augenblick schweigend an, dann sagte er: »Du hasst dich«, leise, ganz leise, und ich klatschte langsam in die Hände, klatschte ihm Beifall für diesen Geistesblitz – ich meine, klar hasse ich mich, das ist dochoffensichtlich, und ich spürte, wie sich ein zufriedenes Lächeln auf meinem Gesicht ausbreitete. Jetzt hatte ich ihm den Mund gestopft.
Aber das war ein Irrtum, denn Patrick fuhr fort: »Und du hasst sie.«
Ich hörte auf zu klatschen und ging auf ihn zu, so wie Julia immer, wenn sie sich mit jemandem anlegte, zielstrebige Schritte, und ausnahmsweise war ich froh über meine Größe, weil ich ihm so in die Augen sehen konnte, wenn ich ihm eine reindonnerte.
Ich wollte ihm wehtun. Wollte seine Worte auslöschen, ihm in den Hals zurückstopfen, ungeschehen machen, ungesagt. Mein Mund war offen, meine Hände zu Fäusten geballt, aber ich …
Ich schlug ihn nicht. Obwohl ich es vor mir sah, wie ich ihm die Fäuste ins Gesicht knallte, wie er den Mund aufriss und keine Worte herauskamen, sondern Stöhnen, Blut. Und trotzdem schlug ich ihn nicht.
Ich weiß noch, wie ich dastand, die geballten Fäuste nach ihm ausgestreckt. Wie etwas in meiner Kehle hochschoss, und plötzlich war da nur noch das blendende Weiß meiner Knöchel, die gegen seine Brust knallten. Und mein offener Mund, so voller Wörter, die nur darauf warteten, endlich hervorbrechen zu können –
du hast doch keine Ahnung, du Scheißtyp, du bist ja so gestört, dass du dich vor der ganzen Welt verstecken musst, also, was willst du mir schon erzählen
? –, dieser Mund formte keine Worte.
Nichts. Kein Ton kam heraus, als ob etwas in mirzerbrochen wäre. Ich stand einfach da, den Mund zu einem stummen Schrei
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