Love
heraufgekommen ist, und natürlich ist Sparky Landon sie hinuntergefahren zur Arbeit
(U.S. Gyppum)
aber das war vermutlich schon alles gewesen. Keine Schul busse, weil Paul und ich daheim unterrichtet wurden. Die Schulbusse fuhren zum Eselspferch.
»Schnee hat alles schlimmer gemacht, und Kälte war noch schlimmer – bei Kälte mussten wir im Haus bleiben. Trotzdem war dieses Jahr anfangs nicht mal schlecht. Wenigstens hat ten wir einen Weihnachtsbaum. Es gab Jahre, in denen Daddy bösmüllig war – oder einfach nur trübsinnig –, und dann gab's keinen Baum und keine Geschenke.« Er lacht kurz, hu morlos. »Einmal mussten wir zu Weihnachten bis drei Uhr morgens wach bleiben, damit er uns aus der Offenbarung des Johannes vorlesen konnte – von Siegeln, die aufgetan, und Schalen, die ausgegossen wurden, und Reitern auf verschie denfarbigen Pferden –, und zuletzt hat er die Bibel in die Küche geschmissen und dabei gebrüllt: ›Wer schreibt diesen ganzen Scheiß? Und wer sind die Schwachköpfe, die so was glauben?‹ Wenn er's darauf anlegte, Lisey, konnte er brüllen wie Kapitän Ahab in den letzten Tagen der Pequod . Aber an diesem speziellen Weihnachten war er nett und freundlich. Weißt du, was wir gemacht haben? Wir sind alle drei zusam men nach Pittsburgh zum Einkaufen gefahren, und Daddy ist sogar mit uns ins Kino gegangen – in einen Film, in dem Clint Eastwood als Cop irgendeine Kleinstadt zerlegt. Davon habe ich Kopfschmerzen gekriegt, und vom Popcorn war mir halb schlecht, trotzdem war der Film für mich das gottverdammt Tollste, das ich je gesehen hatte. Sobald wir wieder daheim waren, habe ich gleich angefangen, eine ähnliche Geschichte zu schreiben, die ich Paul noch am selben Abend vorgelesen habe. Sie war vermutlich Mist, aber er hat gesagt, sie wär gut.«
»Klingt wie ein großartiger Bruder«, sagt Lisey vorsichtig.
Ihre Vorsicht ist überflüssig. Scott hat sie gar nicht gehört. »Damit will ich klarmachen, dass wir gut miteinander ausge kommen sind, dass wir uns schon seit ein paar Monaten fast wie eine normale Familie verstanden haben. Falls es so was überhaupt gibt, was ich bezweifle. Aber … aber …«
Er verstummt, denkt nach. Schließlich nimmt er den Faden wieder auf.
»Ein paar Tage vor Weihnachten war ich dann oben in mei nem Zimmer. Es war kalt – kälter als 'ne Hexentitte –, und in der Luft hing Schnee. Ich habe auf dem Bett gesessen und Geschichte gelernt, als ich bei einem Blick aus dem Fenster sah, dass Daddy mit einem Armvoll Holz über den Hof kam. Also bin ich die Hintertreppe runtergelaufen, um ihm zu hel fen, die Scheite in der Holzkiste zu stapeln, damit nicht lauter Rinde auf den Fußboden kommt – das hat ihn immer aufge bracht. Und Paul hat
1O Paul sitzt am Küchentisch, als sein kleiner Bruder, der gerade erst zehn ist und einen Haarschnitt braucht, in seinen Turnschuhen, deren Schuhbänder lose schlabbern, die Hinter treppe herunterkommt. Scott denkt, dass er Paul fragen will, ob er Lust hat, mit ihm zum Schlittenfahren auf den Hügel hinter der Scheune zu gehen, sobald das Holz gestapelt ist. Das heißt, falls Daddy keine weiteren Aufträge für ihn hat.
Paul Landon, groß und schlank und mit dreizehn schon gut aussehend, hat vor sich ein Buch aufgeschlagen. Es heißt Ein führung in die Algebra, und Scott hat keinen Grund, zu glau ben, Paul täte etwas anderes, als Gleichungen nach x aufzu lösen, bis Paul den Kopf hebt und ihn ansieht. Scott ist noch immer drei Stufen vom Fuß der Treppe entfernt. Doch danach dauert es nur einen Augenblick, bis Paul sich auf seinen jüngeren Bruder stürzt, gegen den er sein Leben lang noch nie die Hand erhoben hat, aber diese Zeitspanne genügt, um Scott erkennen zu lassen, dass Paul nicht einfach nur dagesessen hat. Nein, Paul hat nicht nur gelesen. Nein, Paul hat nicht gelernt.
Paul hat ihm aufgelauert .
Es ist nicht Leere, die er in den Augen seines Bruders sieht, als Paul mit solcher Energie von seinem Stuhl aufspringt, dass der zurückrutscht und gegen die Wand knallt, sondern reine Bösmülligkeit. Diese Augen sind nicht mehr haselnussbraun. Im Gehirn hinter ihnen ist irgendetwas geplatzt und hat sie mit Blut gefüllt. In den Augenwinkeln stehen scharlachrote Tropfen.
Ein anderes Kind wäre vielleicht erstarrt und so von dem Monster ermordet worden, das noch vor einer Stunde ein gewöhnlicher Bruder gewesen ist, der nur an seine Hausauf gaben dachte oder vielleicht daran, was Scott und er Daddy zu
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