Love
fängt zu weinen an, aber es ist nicht Scott, den sie fragt, Scott ist dort, wo die Gomer sind. Als sie damals unter dem Lecker-Baum saßen, unter dem sie durch seltsamen Oktoberschnee vor der Welt sicher waren, hat er seine Arbeit als Schriftsteller als eine Art Verrücktheit bezeichnet. Sie hatte protestiert – sie, die prak tisch veranlagte Lisey, für die alles beim Alten war –, und er hatte gesagt: Du kennst das Gewesene nicht. Ich hoffe, dass du auf diese Weise glücklich bleibst, kleine Lisey.
Aber heute Nacht, während der Wind aus Yellowknife her anheult und der Himmel in wilden Pastelltönen erblüht, hat ihr Glück sie im Stich gelassen.
7 Während Lisey im Büro ihres toten Mannes auf dem Rücken lag und das durchgeblutete Freudenstück an ihre Brust drückte, sagte sie: »Ich habe neben ihm gesessen und seine Hand unter dem African herausgezogen, damit ich sie in meiner halten konnte.« Sie schluckte. In ihrer Kehle klickte es wieder. Sie wollte mehr Wasser, aber sie traute sich noch nicht zu, aufzustehen, nicht jetzt schon. Seine Hand war warm, aber der Fußboden
Der Boden ist kalt, und seine Kälte dringt sogar durch den Flanell ihres Nachthemds und den Flanell ihrer langen Unterhose und die Seide ihres Slips, den sie darunter trägt. Wie das übrige Obergeschoss hat auch das Gästezimmer Fuß bodenheizung, die sie spüren kann, wenn sie die freie Hand ausstreckt, aber die nutzt nicht viel. Die unaufhörlich ar beitende Heizung schickt Hitze herauf, die Heizschlangen im Fußboden geben sie ab, sie kriecht ungefähr fünfzehn Zenti meter weit durch die Bodendielen … und dann puff! Ver schwunden. Wie die Streifen auf dem Barber Pole. Wie auf steigender Zigarettenrauch. Wie manchmal auch Ehemänner.
Scher dich nicht um den kalten Fußboden. Scher dich nicht darum, ob dein Hintern blau anläuft. Kannst du etwas für ihn tun, dann tu's gefälligst!
Aber was ist dieses Etwas? Wie soll sie anfangen?
Die Antwort scheint mit dem nächsten Windstoß zu kom men. Fang mit der Tee-Kur an.
»Davon-hat-er-mir-nie-erzählt-weil-ich-nicht-danach gefragt-habe.« Das stößt Lisey so hastig hervor, dass es fast wie ein einziges exotisches Wort klingt.
Dann ist es eine aus einem einzigen exotischen Wort be stehende Lüge. Scott hat ihr die Frage nach der Tee-Kur in jener Nacht im Antlers beantwortet. Im Bett, nachdem sie sich geliebt hatten. Sie hat ihm zwei oder drei Fragen gestellt, aber als die wichtige, die entscheidende Frage erwies sich ihre erste. Noch dazu als eine einfache. Er hätte mit einem schlich ten Ja oder Nein antworten können, aber wann hatte Scott Landon auf eine Frage jemals nur Ja oder Nein gesagt? Und die Frage hatte sich als der Korken erwiesen, der im Flaschen hals festsaß. Weshalb? Weil sie zu Paul zurückführte. Und die Geschichte Pauls war im Wesentlichen die Geschichte seines Todes. Und Pauls Tod führte zu …
»Bitte nicht«, flüstert sie – und merkt dann, dass sie seine Hand viel zu fest drückt. Scott protestiert natürlich nicht da gegen. Im Sprachgebrauch der Familie Landon ist er zum Gomer geworden. Es klang komisch, wenn man es so aus drückte, fast wie ein Witz in der TV -Serie Hee-Haw.
Sag mal, Buck, wo steckt eigentlich Roy?
Nun, ich bin ganz ehrlich, Minnie – Roy ist zum Gomer ge worden!
[Das Publikum brüllt vor Lachen.]
Lisey lacht jedoch nicht, und sie braucht keine ihrer inne ren Stimmen, damit sie ihr sagen, dass Scott in Katatonien ist. Wenn sie ihn von dort zurückholen will, muss sie ihm nach dorthin folgen.
»O Gott, nein!«, stöhnt sie, denn was das heißt, ragt im Hin tergrund ihres Bewusstseins schon als mehrfach verhüllte Riesengestalt auf. »O Gott, o Gott, muss ich wirklich?«
Gott antwortet nicht. Sie braucht auch keine Antwort von ihm. Sie weiß, was sie tun muss, oder zumindest, wie sie an fangen muss: Sie muss sich an ihre zweite Nacht im Antlers erinnern, nachdem sie sich geliebt haben. Sie waren dabei gewesen, in Richtung Schlaf abzudriften, und Lisey hatte ge dacht: Was kann es schon schaden, dich interessiert der hei ligmäßige große Bruder, nicht der alte Teufelsdaddy. Also frag ihn danach! Und sie hat ihn gefragt. Während sie auf dem Fußboden sitzt und seine Hand (die jetzt kühler wird) in ihrer hält, während draußen ein Wintersturm heult und der Nacht himmel in psychedelischen Farben wabert, blickt sie durch einen Spalt des Vorhangs, hinter dem sie ihre schlimmsten, verwirrendsten Erinnerungen verborgen hat, und sieht
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