Love
Linoleumboden in der Küche gleitet.
Scott dreht sich um. Er liegt mit gespreizten Gliedmaßen auf den unteren Treppenstufen und hat nichts an außer einem alten Flanellhemd, seiner Unterhose und weißen Sportsocken mit Löchern in den Fersen. Ein Fuß berührt fast den Boden. Er ist zu benommen, um zu weinen. Sein Mund schmeckt wie das Innere eines Sparschweins. Dieser letzte Schlag hat sich schrecklich angehört, und er ist sich so sicher, dass sein Bru der davon bluten muss, dass seine lebhafte Fantasie ihm im ersten Augenblick vorgaukelt, die gesamte Küche wäre rot von Pauls Blut. Er will aufschreien, steht aber so unter Schock, dass seine entleerte Lunge nur ein kurzes verzweifel tes Quietschen hervorbringt. Dann blinzelt er und sieht, dass es kein Blut gibt – nur Paul, der mit dem Gesicht in der ehe maligen Zuckerschale liegt, die in vier große und zahlreiche kleine Teile zersplittert ist. Der tanzt nie wieder Tango, sagt Daddy manchmal, wenn etwas zerbricht, ein Becher oder ein Teller, aber diesmal sagt er's nicht, sondern steht nur in einem gelben Arbeitskittel über seinem bewusstlosen Sohn. Auf den Schultern und den struppigen Haaren, die allmählich grau werden, hat er Schnee. In einer behandschuhten Hand hält er das lange Holzscheit. Hinter ihm, im Eingangsbereich wie Mikadostäbe verstreut, liegen die restlichen Scheite. Die Tür steht noch offen, lässt weiter einen eisigen Luftzug herein. Und jetzt sieht Scott, dass es doch etwas Blut gibt, es sickert aus Pauls linkem Ohr und läuft über seine Wange.
Daddy, ist er tot?
Daddy wirft das Scheit in die Holzkiste und streicht sich die langen Haare aus dem Gesicht. Der Schnee in seinem Stoppel bart schmilzt bereits. Nein, das ist er nicht. Das wäre zu ein fach. Er trampelt zurück zur Tür, knallt sie zu und schneidet damit den Luftzug ab. Alle seine Bewegungen wirken angewidert, aber Scott, der ihn schon früher so erlebt hat – wenn er amtliche Schreiben zu Steuerzahlungen, Schulpflicht und dergleichen bekommen hat –, weiß ziemlich sicher, dass er in Wirklichkeit Angst hat.
Daddy kommt zurück und bleibt bei dem Jungen stehen, den er mit seinem Schlag gefällt hat wie einen Baum. Er tritt eine Weile von einem in derben Stiefeln steckenden Fuß auf den anderen. Dann sieht er zu seinem zweiten Sohn auf.
Hilf mir, ihn in den Keller zu bringen, Scoot.
Es ist nicht ratsam, Daddy Fragen zu stellen, wenn er einem Anweisungen gibt, aber Scott hat Angst. Außerdem ist er fast nackt. Er kommt in die Küche hinunter und fängt an, sich sei ne Hose anzuziehen. Wozu, Daddy? Was hast du mit ihm vor?
Und wie durch ein Wunder schlägt Daddy ihn nicht. Brüllt ihn nicht einmal an.
Weiß der Teufel. Erst mal sicher verschnüren, bis mir was einfällt. Beeil dich! Er bleibt nicht lange ohnmächtig.
Ist das wirklich der Bösmüll? Wie bei den Landreaus? Und deinem Onkel Theo?
Was glaubst du, Scoot? Nimm seinen Kopf, wenn du nicht willst, dass er über die Stufen poltert. Ich sag dir, er kommt bald wieder zu sich, und nächstes Mal hast du womöglich weniger Glück. Ich vielleicht auch nicht. Bösmüllige sind ver dammt stark.
Scott tut, was sein Vater verlangt. In Amerika gehen die Sechzigerjahre zu Ende, bald werden Menschen auf dem Mond stehen, aber die beiden haben es mit einem Jungen zu tun, der scheinbar von einem Augenblick zum anderen wild geworden ist. Der Vater akzeptiert diese Tatsache einfach. Nach den ersten Fragen, gestellt unter Schock, tut das auch der Sohn. Als sie unten an der Kellertreppe anlangen, beginnt Paul sich wieder zu regen und undeutliche, aus tiefster Kehle kommende Laute auszustoßen. Sparky Landon legt seinem Älteren beide Hände um den Hals und fängt an, ihn zu würgen. Scott schreit entsetzt auf, will dazwischengehen.
Nein, Daddy!
Sparky Landon befreit seine Hände lange genug von dem, womit sie gerade beschäftigt sind, um seinem jüngeren Sohn geistesabwesend einen Rückhandschlag zu verpassen. Scott torkelt zurück und prallt gegen den massiven Tisch, der mit ten auf dem Kellerboden aus gestampfter Erde steht. Auf dem Tisch steht eine alte Druckerpresse mit Kurbelantrieb, die Paul irgendwie wieder in Gang gebracht hat. Er hat ein paar von Scotts Geschichten darauf gedruckt, es waren die ersten Veröffentlichungen seines jüngeren Bruders. Die Handkurbel dieses Monstrums, das sicher eine Vierteltonne wiegt, bohrt sich schmerzhaft in Scotts Rücken; er sackt mit verzerrtem Gesicht zusammen und muss zusehen, wie sein
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