Loving
Max.
»Wohin als erstes?«, brüllt Sven gegen die Musik an.
»Berlin«, brüllt Luca zurück.
Zwanzig Minuten später sind wir in Berlin. Das Auto vibriert von den Technoklängen, Zoe und ich kommunizieren nur noch über Blicke und Körperbewegungen.
»Wohin jetzt?«, fragt Sven.
Alle schweigen. Ich gehe im Kopf die Route durch. Am meisten Sinn macht: Erst Lucas, dann Zoe, dann ich. Da gibt es dieses Rätsel mit der Ziege und dem Kohlkopf und dem Wolf und dem Boot und weder die Ziege darf mit dem Wolf, noch der Kohlkopf mit der Ziege und irgendwie müssen alle in einem Boot ans andere Ufer. Warum fällt mir in wichtigen Momenten immer dieser Schwachsinn ein?
»Fahr zu mir«, schlägt Luca vor. Ich deute es mehr, als dass ich es verstehe.
Zoe krallt ihre Hand in meinen Oberschenkel, und ich bin mir nicht sicher, ob das Aufregung oder Ablehnung bedeutet.
Kurze Zeit später hält Sven vor Lucas Haus und schaltet den Motor aus. Sofort ist es totenstill im Auto. Es ist zwölf Uhr, das Haus ist dunkel. Lucas Schwestern schlafen sicher schon, morgen ist Schule. Sven steigt aus und öffnet die Beifahrertür, damit Luca besser aussteigen kann, doch der dreht sich vorher zu uns.
»Habt ihr noch Lust auf einen Kaffee?«
Zoes Griff um meinen Oberschenkel wird noch enger. Bedeutet das Ja oder Nein ?
»Ja, gerne«, sage ich und nicke Zoe zu, die zustimmt.
Sven kommt ganz selbstverständlich mit.
Im Haus ist es still und wir senken die Stimmen. Luca stellt seinen Krücken im Flur ab, im Haus bewegt er sich auch ohne ganz sicher. Wir gehen in die Küche, die klein und aufgeräumt ist und eine gemütliche Atmosphäre ausstrahlt. Auch hier ist alles orange, rot, gelb. Luca füllt Kaffee in eine Glaskanne und setzt Wasser auf.
»Kann ich euer Bad mal benutzen?«, fragt Zoe.
»Oben«, sagt Luca.
Zoe gibt mir ein diesmal sehr eindeutiges Zeichen und ich folge ihr leise.
Im Bad tuscht sie sich als erstes die Wimpern. »Mann, es ist schon zwölf. Kann ich bei dir übernachten?«
»Na, klar. Aber ich muss auch um eins zu Hause sein.«
Zoe grinst. »Sag doch, du übernachtest bei mir.«
»Und dann?«
»Haben wir alle Möglichkeiten.«
Ich sehe da nicht so viele Varianten. Ich glaube, dass jede Lüge, die man erzählt, sich irgendwann gegen einen selber richtet. Und ich habe auch nicht vor zu lügen. Nicht jetzt, nicht später. »Ich will meine Mutter nicht anlügen«, sage ich entschieden. Aber ich will jetzt auch nicht gleich gehen. Die Sache ist kniffliger als die Kohlkopf-Ziegen-Wolf-Geschichte.
Zoe rollt im Spiegel mit den Augen. »Ella! Lass dich einfach mal fallen.«
In der Küche hantiert Luca mit dem Kaffee und Sven jongliert mit Orangen aus einer großen Obstschale, die mit roten Äpfeln, Zitronen und Orangen gefüllt ist. Ich bin beeindruckt von der Entschlossenheit, mit der Monja ihr Farbkonzept durchzieht.
»Lass mich mal!«, sagt Zoe und lässt sich von Sven zeigen, wie man jongliert. Über die beiden hinweg treffen sich Lucas und mein Blick und ich weiß, dass all das, was wir gerade um uns herum an Ablenkung aufbieten, nicht verhindern wird, dass wir immer weiter aufeinander zutreiben. Etwas, das ich mir wünsche, und vor dem ich gleichzeitig Angst habe. Zoe hat recht, ich sollte mich fallen lassen, aber es ist tief, viel tiefer, als ich gedacht habe.
»Wer will Kaffee?«
»Jo, Alter!«, ruft Sven, der noch ein wenig mehr gestresst zu sein scheint als ich. Was verspricht er sich von dem Abend? Er steht hinter Zoe und zeigt ihr, in welchem Rhythmus sie die Hände bewegen muss. Zoes Aufmerksamkeit ist überall, aber nicht bei den Orangen, die alle zwei Sekunden polternd auf den Boden fallen. Ich setze mich in eine Sitzecke mit vielen bestickten indischen Kissen. Luca stellt mir eine Tasse hin.
»Mit Milch?«
»Gerne.«
Er setzt sich zu mir, legt die Hände um seine Tasse.
»Was machst du als erstes, wenn du den Aircast los bist?«, frage ich.
Luca grinst. »Normal laufen! Ich kann die Krücken nicht mehr sehen.«
»Die haben dir aber krasse Oberarme beschert«, sagt Sven, kommt an den Tisch, packt an Lucas Oberarme und pfeift anerkennend durch die Zähne.
Zoe schiebt sich neben mich.
»Hast du was Süßes dazu?«, fragt sie Luca. Sie liebt alles, was ungesund ist.
Luca steht auf und sucht im Schrank nach Keksen und Schokolade, legt sie auf den Tisch und wir fallen darüber her.
»Probiert das mal!«, sagt Sven, legt sich ein Stück Zartbitterschokolade auf die Zunge und nimmt einen Schluck
Weitere Kostenlose Bücher