Lucian
verloren. Mein mühsam aufgebautes Abwehrsystem bröckelte und ich konnte nichts, aber auch gar nichts dagegen tun.
Fayes rotes Haar leuchtete in der Sonne wie Feuer. Sie hob ihre Hand und legte sie auf meinen Rücken.
Ich fühlte, wie sich die Stelle zwischen meinen Schulterblättern unter ihrer Berührung mit Hitze auflud. Sie strahlte durch mich hindurch, bis zu dem Panzer, der sich um meine Brust gelegt hatte und der jetzt in eine Milliarde Stücke zersprang und all die verbotenen Gedanken freilegte.
Ich fing an zu weinen und gleich darauf schrie ich es heraus, so laut, dass der kleine Junge vor uns erschrocken aus seinem Sandloch sprang und zum Pier lief.
»Ich hasse dich«, schrie ich. »Ich hasse dich, Lucian!«
Der Wind war kalt geworden, auch die Sonne war tiefer gesunken. Wir waren noch immer am Strand und Faye schwieg nach wie vor, aber mein Kopf lag jetzt in ihrem Schoß. Sie streichelte mir über die Haare und sah mich auf diese stille und irgendwie weltfremde Art an.
Ich schloss die Augen, eine endlose Weile lang.
»Es war ein perfekter Abend«, hörte ich mich schließlich sagen.
»Es war ein Mittwoch. Unsere Ladys Night in . Meine Mutter, ihre Freundin Spatz und ich saßen auf unserem Dachboden. Wir haben ausgemistet. Altes Zeug, das wir auf dem Flohmarkt verkaufen wollten. Wir haben gelacht und über alte Zeiten geredet. Und dann hatte ich plötzlich dieses merkwürdige Gefühl. Es war wie ein innerer Riss. Ganz zart, ich dachte erst, ich hätte es mir eingebildet. In der gleichen Nacht hatte ich einen furchtbaren Albtraum und danach stand dieser fremde Junge vor meinem Haus.«
Faye schaute regungslos auf mich hinunter.
Ich erzählte ihr die ganze Geschichte, alles, was mir in den letzten vier Monaten widerfahren war, was mein Leben auf den Kopf gestellt und schließlich aus den Wurzeln gerissen hatte. Ich erzählte auch von Lucians Träumen, von denen einige wahr geworden waren. Ich erklärte ihr, warum ich unbedingt mit an den Strand gewollt hatte.Faye verzog keine Miene. Sie stellte keine Zwischenfragen, sie hörte mir einfach nur zu.
Als ich an die Stelle kam, wo Janne von ihrer nächtlichen Unterredung mit Lucian zurück nach Hause kam und mir befahl, meine Sachen zu packen, schloss ich die Augen.
»Da hatte ich noch die Illusion, ein Mensch mit einem eigenen Willen zu sein«, flüsterte ich. »Ich habe mich auf meine Mutter gestürzt und mit beiden Fäusten auf sie eingeschlagen. Aber sie hat dichtgemacht. Sie hat mir nicht verraten, was dieser Irrsinn meiner fluchtartigen Evakuierung bedeuten sollte, und auch nicht, was Lucian zu ihr gesagt hatte. Stattdessen drohte sie mir. Wenn ich am nächsten Morgen nicht freiwillig mit zum Flughafen käme, würde sie Mittel finden. Ich wusste, dass sie von Medikamenten sprach, und in diesem Moment hab ich begriffen, dass es sinnlos war. Spatz hat an diesem Abend meine Sachen gepackt, es war das erste Mal, dass ich sie weinen sah.«
Langsam öffnete ich die Augen und bemerkte, wie Fayes Blick auf mir ruhte. »Am nächsten Morgen brachte mich Janne zum Flughafen und ist mit mir in die Maschine gestiegen. Danach war nur noch dieser fürchterliche Schmerz da. Und er wurde immer schlimmer.«
Ich setzte mich wieder und starrte aufs Meer. Rechts am Horizont konnte ich die Berge sehen, sie lagen im Dunst und das Meer hatte eine kraftvolle dunkle Farbe angenommen. Ich konnte nicht glauben, dass schon so viel Zeit verstrichen war, aber mittlerweile musste es später Nachmittag sein.
In der Ferne zogen Segelschiffe vorbei und direkt vor uns auf einem Pfahl hockte ein Pelikan. Er war riesig. Den langen Schnabel gebogen, den schlanken Hals gebeugt wie ein dunkler Schwan, schaute er mich aus einem Auge an.
»Den Rest der Geschichte kennst du. Um deine Frage von vorhin zubeantworten: Ja, die Klinik war nett. Und nein: Ich habe keine anderen Gestörten kennengelernt. Ich hatte genug damit zu tun, mich mit der Gestörten vertraut zu machen, zu der ich selbst geworden war.«
Faye nickte. In ihren Augen stand nicht nur Mitleid, sondern auch Verständnis. Sie schien wirklich zu begreifen, was ich durchgemacht hatte. »Aber dann wurde es besser«, sagte sie schließlich. »Die Schmerzen, meine ich. Sie ließen nach, oder? In der Klinik?«
Ich zuckte mit den Schultern. »Ja«, murmelte ich. »Schon.«
Faye nickte wieder.
»Was willst du jetzt tun?«, fragte sie, nachdem wir eine lange Weile geschwiegen hatten.
Ich sagte es, ehe ich es denken konnte. »Ihn
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