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Lucian

Lucian

Titel: Lucian Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Isabel Abedi
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ihren Kopf schief. Sie sah nicht im Mindesten gehässig aus, eher neugierig, ernsthaft interessiert.
    Mir stand der Mund offen. »Sag mal, hast du sie noch alle?«, platzte ich raus. »Was machst du überhaupt hier? Wenn ich das richtig verstanden habe, bist du Vals Kindermädchen und nicht meins. Oder –«, misstrauisch trat ich einen Schritt zurück, »bist du etwa wegen mir hier? Hat mein Dad dich auf mich angesetzt?«
    »Nein«, sagte Faye schlicht.
    »Na also«, knurrte ich. »Dann hau ab und lass mich in Frieden.«
    »In Frieden?« Faye lächelte, diesmal sah sie belustigt aus. »Ich wollte dich wirklich nicht stören. Ich wollte nur eine Nachricht für Michelle hinterlassen und dann an den Strand fahren, da habe ich gesehen, dass die Tür des Gartenhauses offen stand. Also dann . . .« Sie lächelte wieder. »Auf Wiedersehen. Ich lasse dich in Frieden .«
    Bevor Faye aus dem Gartenhaus ging, zog sie sich mit einer leichten Bewegung die schwarze Baskenmütze vom Kopf. Was darunter zum Vorschein kam, jagte mir einen elektrischen Stoß durch die Glieder. Ihre langen, bis über die Taille fallenden Locken waren feuerrot.
    »Warte«, stieß ich hervor. »Warte mal. Du wolltest . . . zum Strand?« Faye drehte sich noch einmal zu mir um. »Ja?«, sagte sie. Es klang fast wie eine Frage.
    Letzte Nacht hab ich geträumt, dass wir am Strand saßen. Ich weiß nicht, wo dieser Strand war. Es war jedenfalls ziemlich viel los. Im Wasser waren Surfer, ein paar Jungs spielten Volleyball und neben uns saß ein Mädchen. Sie hatte lange feuerrote Locken und trug ein altmodisches Kleid. Es war silbergrau. Sie zeichnete ein Bild von einem kleinen Jungen und wir haben ihr zugesehen.
    Vals Geschenk. Ihr Kindermädchen hatte es gemalt.
    Ich starrte Faye an. Die Energie, die jetzt durch meinen Körper jagte, ließ sich mit einer Überdosis Adrenalin vergleichen.
    »Wenn es dir nichts ausmacht«, japste ich, »könnte ich vielleicht . . . mit?«
    Faye zuckte gleichmütig mit den Schultern. »Klar«, sagte sie.

ZWEIUNDZWANZIG
    Den buttercremefarbenen Bentley mit den roten Ledersitzen, in dem wir bei offenem Dach die gewundene Straße zum Sunset Boulevard und von dort weiter zum Pacific Coast Highway fuhren, hatte sich Faye wohl kaum von ihrem Gehalt als Kindermädchen leisten können. Vielleicht hatte sie reiche Eltern oder es war ein Wagen von Dad oder Michelle.
    Faye hatte den beiden eine Nachricht hinterlassen, dass sie mich ein wenig herumführen und spätestens zum Abendessen wieder nach Hause bringen würde. Was mein Dad davon hielt, wusste ich nicht, aber es war mir auch ziemlich gleichgültig.
    Faye schwieg. Sie wirkte konzentriert, als würde das Autofahren sie anstrengen, und mir war das im Grunde genommen sehr recht.
    Die Landschaft auf unserer linken Seite war hügelig. Hier und dort hatte man Häuser in die Berge hineingebaut. Es gab Hotels, auf deren Dächern die amerikanische Flagge wehte, und jede Menge Palmen. Auf der rechten Seite des Highways, die ebenfalls von Palmen gesäumt wurde, lag das Meer.
    Es war silbrig blau und auf seiner Oberfläche spiegelten sich Millionen funkelnder Lichtpunkte. Die hohe Brandung donnerte mit Wucht gegen das Ufer.
    Fast instinktiv holte ich Luft, sie roch salzig und frisch und ich spürte, dass es mir mit einem Mal leichter fiel zu atmen. Faye drehtesich zu mir und lächelte mich an. Plötzlich war sie mir merkwürdig vertraut, als ob wir uns wirklich schon einmal gesehen hatten.
    Auf der breiten Strandpromenade, an der wir jetzt entlangfuhren, kamen uns Jogger, Fahrradfahrer und Inlineskater entgegen. Irgendwann tauchte ein altes Karussell auf, das zu einem kleinen Vergnügungspark gehörte. Ein langer, von Menschen übervölkerter Steg führte dorthin. Faye drehte das Radio leiser. »Das ist der Santa-Monica-Pier«, erklärte sie. »Einer von Vals Lieblingsorten. Wenn sie einen ihrer strengen Tage hat, muss ich zwanzig Mal hintereinander mit ihr Achterbahn fahren.«
    Ich nickte abwesend.
    Die linke Straßenseite säumten nun breite sattgrüne Rasenflächen, auf denen Kinder Fußball spielten und offensichtlich betuchte Amerikanerinnen in teuren Jogginganzügen ihre Hunde ausführten. Dann tauchten die ersten Obdachlosen auf. Sie hatten Zelte und Schlafsäcke auf den Wiesen aufgeschlagen, saßen in Gruppen beisammen oder standen vor klapprigen, bunt bemalten Wohnmobilen, auf deren Dächern Kisten, alte Sessel und jede Menge Gerümpel gestapelt waren. Faye drosselte das

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