Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Lucian

Lucian

Titel: Lucian Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Isabel Abedi
Vom Netzwerk:
angenommen hatten, als ob er frieren würde.
    »Lovell tauchte in meinem Leben auf«, fuhr er fort, »wieder undwieder. Zunächst hielten wir es für Zufall, doch irgendwann war diese Illusion nicht länger möglich. Wo er war, war ich. Wo ich war, war er. Zusammen ging es uns gut. Getrennt ging es uns schlecht. Bei uns . . .«, Tyger warf mir einen Seitenblick zu. »War keine Leidenschaft im Spiel, das erleichterte die Sache ein wenig. Aber dennoch konnten wir nicht ohne den anderen sein. Wir konnten diese Anziehung nicht verstehen. Sie erklärte sich allein durch das Unbewusste.«
    Schon bevor er fortfuhr, wusste ich, was er damit meinte.
    Er sagte: »In allen möglichen und unmöglichen Situationen träumte ich von Ambrose. Aber es waren immer nur Bruchstücke, Ausschnitte. Suchbilder aus der Vergangenheit und der Zukunft.« Tyger griff nach der Radierung. Er drehte sie in seinen Händen, dann ließ er sie wieder sinken. »Irgendwann träumte ich von Ambroses Tod. Ich sah ihn an der Gardinenstange hängen.«
    Ich spürte ein Zucken in der Brust, mein Herz schlug in stetigem Rhythmus, gleichzeitig produzierte mein Gehirn Bilder. Jedes Pochen schien ein neues Bild auszulösen.
    Poch – mein Albtraum vom Sterben. Poch – Lucian vor meinem Fenster. Poch – Lucian im Lampenladen, poch – Lucian auf dem Flohmarkt, poch – Lucian vor dem Leuchtturm am Falkensteiner Ufer. Poch – Lucian auf dem Maskenball. Poch – Lucian in seiner Unterkunft in Hamburg. Poch – sein Kuss – poch, poch, poch . . .
    Ich presste beide Hände zusammen und krallte die Finger ineinander.
    »Von da an folgte ein Schlag auf den anderen«, fuhr Tyger fort.
    »Lovells Sohn starb. Kurz darauf seine Frau. Ich hatte diese Szenen geträumt, doch wir konnten sie nicht verhindern. Sie trafen aufs Neue ein, manche mit winzigen Abweichungen, aber sie geschahen. Ambrose, der mittlerweile stark zu trinken begonnen hatte und mit den ersten Selbstmordgedanken kämpfte, schwor mir, stark zu bleiben,bis wir herausgefunden hatten, wer ich war. Ich wusste es zu diesem Zeitpunkt noch immer nicht. Ich wusste es auch nicht, als ich Wochen später in der Zeitung las, dass sein Verleger sich von ihm getrennt hatte. Ambrose hatte sich inzwischen in seinem Zimmer verschanzt. Er ließ mich nur noch ein einziges Mal zu sich. Er war betrunken, kaum noch bei Sinnen. Er nannte mich seinen Tod, seinen letzten Besucher, aber gleichzeitig erklärte er mir, er bräuchte mich nicht, er käme ohne mich zurecht. Dann schmiss er mich gewaltsam hinaus.«
    Tyger löste sich von dem Stuhl und nun sah er uralt aus, als hätte ihm jemand eine Maske von seinem Gesicht gezogen.
    »Ich fand Hilfe«, sagte er. »Ich fand heraus, wer ich war und dass ich der Einzige war, der Lovell retten konnte. Ich stürzte zurück zu Lovells Schreibzimmer. Aber ich kam zu spät.«
    Noch einmal holte Tyger die goldene Taschenuhr aus seiner Westentasche. Diesmal klappte er sie auf und sein linkes Auge zuckte jetzt sehr heftig. »Am 17. Oktober 1928 um 23:45 Uhr brach ich die Tür von Lovells Schreibzimmer auf. Ich kam um eine Minute zu spät. Lovell war tot. Seine Uhr lag am Boden. Sie war stehen geblieben.«
    Tyger hielt mir die Taschenuhr hin. Ihr Minutenzeiger stand auf 23:44.
    »Auf Lovells Schreibtisch lag der halb fertige Roman. Zu einem richtigen Ende ist es nicht gekommen, weder für Ambrose noch für mich.«
    Ich saß auf meinem Stuhl und rührte mich nicht. Ich hatte das Gefühl, als würde ich mich nie wieder rühren können.
    Tyger ließ die Taschenuhr zuschnappen und setzte sich wieder an seinen Tisch. »Kommen wir zum Ende der kleinen Privatstunde«, sagte er. Sein Gesicht hatte sich wieder geglättet, es sah aus wie immer und die Emotionen waren aus seiner Stimme verschwunden. »DieVerbindung war getrennt. Ich wusste, wer ich war, und ich wusste, dass ich gescheitert war. Mein Mensch war tot, ich lebte. Ich erfuhr, dass ich ab jetzt nicht mehr älter werden und niemals sterben würde. Ich . . .«
    »Halt«, schrie ich. »Halt! Woher? Woher wussten Sie das?«
    »Zum einen, weil ich versucht habe, mich umzubringen«, entgegnete Tyger trocken. »Zum anderen gab es jemanden, der mich aufklärte. Ich bin glücklicher- oder unglücklicherweise nicht der einzige Begleiter auf Erden, der versagt hat. Wenn ein neues Mitglied den Club betritt«, Tyger lächelte bitter, »tun die Alten ihr Bestes, um ihm über den schlimmsten Schmerz hinwegzuhelfen.« Er machte eine Handbewegung, als ob er eine

Weitere Kostenlose Bücher