Lucian
sich entzogen wie Farbe aus einem Bild.
Seine Miene war so blass und leer und blank wie die Innenfläche seiner Hände, die er jetzt langsam über den Tisch zu mir herüberschob. Es waren Hände ohne Linien, Hände ohne Spuren, Hände ohne eigene Geschichte.
Sie sahen aus wie Lucians Hände.
Über das Dach des Schulgebäudes flog ein Hubschrauber. Sein lautes, dröhnendes Brummen durchkreuzte meinen Kopf, es wirbelte meine Gedanken auf wie heißen Staub auf einer Straße im Sommer. Das Brummen wurde leiser, der Staub senkte sich, langsam und lautlos verteilte er sich neu, und als alles still war, fand ich Worte.
»Wer sind Sie?«, flüsterte ich. »Was sind Sie?«
Ganz langsam kam wieder Leben in Tygers Gesicht. Seine Wangen nahmen Farbe an, die Adern an seiner Stirn begannen zu pulsieren und in seine Augen kehrte der kalte Glanz zurück.
Er zog die Hände vom Tisch, zündete die Zigarre, die ebenfalls erloschen war, wieder an, paffte ein paar Mal und lehnte sich in seinem Stuhl zurück.
»Machen wir ein kleines Experiment«, sagte er. Er griff zum Telefon und wählte. Aus der Sprechmuschel drang die Stimme einer Frau. Tyger forderte sie auf, in sein Sprechzimmer zu kommen. Er legte den Hörer auf, nahm seine Teetasse, lehnte sich in seinem Armsessel zurück und fing an, mit dem Löffel in seiner Tasse zu rühren.
Als die Tür sich öffnete, wurde Tygers Gesicht starr. Er hatte seinen Blick zwar auf mich gerichtet, aber er schien eher durch mich hindurchzusehen. Es war derselbe Ausdruck, der auch in Lucians Gesicht gelegen hatte, als er an jenem Nachmittag in die Bar gekommen war, wo ich mit Spatz und Janne saß. Es war wie bei einem Kind, das sich die Hände vor die Augen hält in der festen Annahme, dadurch auch für die anderen zu verschwinden.
Eine dickliche Frau schob sich ins Zimmer. »Yes please?« Sie sah zu dem Armsessel, in dem Tyger saß. Dann runzelte sie die Stirn und blickte zu mir. Ihr Gesicht wurde zunehmend verwirrter. Sie musterte mich und ich konnte sehen, wie sie versuchte, die Stimme vom Telefon mit meiner Person in Einklang zu bringen, was ihr nicht gelang. Sie schüttelte den Kopf. »War Mr Tyger eben hier? Er hat mich angerufen.«
Mir blieben die Worte im Hals stecken.
Die Sekretärin kicherte. »Ich komm dann später noch mal«, sagte sie und wackelte aus dem Zimmer.
Tyger wartete, bis sich die Tür schloss. »Ist hübsch, oder? Und so praktisch.«
»Wer sind Sie?« Ich versuchte mich an meiner Frage festzuhalten.
Und diesmal antwortete er mir. »Jetzt«, sagte er und sein Lächeln wurde traurig, »bin ich so etwas wie ein gescheiterter Begleiter. Jemand, der es nicht geschafft hat.«
»Der was nicht geschafft hat?«
Plötzlich stieg mir ein Bild in den Kopf: Tyger, der auf der Beerdigung der Hamburger Schauspielerin unter dem Baum gestanden und applaudiert hatte.
»Meinen Menschen zu retten«, vollendete er seinen Satz. »Ich habe es nicht geschafft, meinen Menschen zu retten. Nun ist Ambrose Lovell die ewige Ruhe bestimmt und mir das ewige Leben. Um auf deine Frage von vorhin zu antworten: Ich bin jetzt so etwas wie Dorian Gray aus dem Roman von Oscar Wilde.« Für einen Moment kehrte sein selbstherrliches Lächeln zurück, als er hinzufügte: »Vielleicht nicht ganz so gut aussehend.«
Ich ließ ihn nicht aus den Augen. »Erzählen Sie mir Ihre Geschichte«, sagte ich und meine Stimme hatte ein fremdes Klirren, das ich selbst nicht recht zuordnen konnte. Ich dachte an ein gewetztes Messer mit einer scharfen Klinge. Es war in Tygers Hand gewesen, jetzt lag es in meiner.
»Erzählen Sie mir Ihre Geschichte«, sagte ich. »Vom Anfang bis zum Ende.«
Tygers Blick traf mich bis ins Mark, aber ich sah nicht weg.
»Am Anfang«, sagte Tyger schließlich, »wird der Mensch geboren.Aber nicht allein. Mit jedem Menschen kommt ein zweites Wesen zur Welt, das ihn begleitet. Von der Geburt . . . bis in den Tod.« Tyger stieß einen neuen Rauchkringel aus und verfolgte seinen lautlosen Tanz in der Luft, bis der Rauch sich aufgelöst hatte. Jetzt lag nur noch der bittere Geruch im Zimmer.
»Meinen Sie so etwas wie einen . . . Engel?«
Die Frage war aus meinem Mund gekommen, aber es fühlte sich nicht so an, als ob ich sie gestellt hätte.
Tyger verzog das Gesicht, als hätte ich ihn beleidigt. »Da muss ich dich leider enttäuschen, Herzchen«, sagte er. »Die Wesen, von denen ich spreche, schwingen sich nicht mit machtvollen Flügeln empor inendlose Weiten. Um ehrlich zu sein,
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