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Lucian

Lucian

Titel: Lucian Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Isabel Abedi
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flattern sie nicht einmal. Sie tragen weder weiße Wallekleider, noch blenden sie die Irdischen mit ihrem strahlenden Antlitz. Sie schweben auch nicht durch die Gegend, um mit unsichtbaren Händen Rotzlöffel aufzuheben, die von Bäumen fallen, oder verströmen lichtvolle Botschaften, mit denen Esoterikfreaks ihre Alltagsperspektiven aufpeppen können. Wenn du an solchen Wesen interessiert bist, meldest du dich besser für ein Engelseminar an.«
    Ich schenkte ihm lediglich die Genugtuung einer winzigen Pause. Dann hatte ich mich wieder im Griff. »Ich habe durchaus begriffen, was diese Wesen nicht tun«, sagte ich langsam. »Nun bleibt die Frage: Was tun sie?«
    »Wir sind da«, sagte Tyger. Meine Reaktion schien ihm zu gefallen. Ganz selbstverständlich wechselte er das Personalpronomen. »Wir sind in der Nähe des Menschen, mit dem wir zur Welt gekommen sind. Wo er hingeht, gehen wir hin. Das ist es. Mehr nicht. Jedenfalls nicht, soweit ich mich erinnere.«
    Tyger goss sich neuen Tee nach. »Du bist sicher, dass du keinen möchtest?«, erkundigte er sich im Plauderton. »Earl Grey, ein echter englischer Klassiker, auch wenn die zarten Bergamottefrüchte aus Kalabrien importiert wurden. Wo waren wir stehen geblieben?«
    »Bei Ihren Erinnerungen«, sagte ich.
    Tyger nickte. »Ja, mit den Erinnerungen ist es so eine Sache. Gerade für uns.« Seine Stimme klang noch immer leichthin, doch sein Tonfall veränderte sich abermals. Ein Schatten huschte über sein glattes Gesicht, ein Ausdruck, der nicht zu ihm passen wollte. Er räusperte sich.
    »Was tun Sie?«, fragte ich ein zweites Mal.
    »Wie gesagt, wir sind da«, nahm Tyger den Faden wieder auf. »Wir begleiten unseren Menschen von der Geburt bis zum Tod. Ab dannübernehmen wir. Wenn der Tod eintritt, tauschen wir sozusagen die Rollen. Wir führen und unser Mensch begleitet uns.«
    »Sie führen wohin?«
    Meine Stimme war fest, aber meine Hände hatten angefangen zu zittern und Tygers Gesicht wurde wieder zynisch.
    »Diese Frage hat euch Menschen zu allen Zeiten beschäftigt«, sagte er. »Und soweit ich weiß, hat niemand eine Antwort darauf gefunden. Das große Jenseits? Reinkarnation? Himmel und Hölle?« Tyger schnaubte. »All das sind Bilder, die im Diesseits geschaffen wurden. Wohin die Reise wirklich geht, weiß keiner. Auch wir nicht. Wir wissen nur, dass wir übernehmen, wenn euer Herz aufhört zu schlagen. Und das Einzige, was wir in dieser winzigen Zeitspanne des Todeskampfes unseres Menschen nicht tun dürfen – ist zweifeln. Sonst . . .«
    Tyger hielt inne. Er erhob sich von seinem Stuhl, ging zum Fenster und sah hinaus auf das Schulgelände. Seine Schulter verdeckte den größten Teil der Aussicht, ich konnte nur ein Stück blauen Himmel sehen und eine Palme, deren Blätter vom Wind bewegt wurden. Sie schaukelten vor Tygers Wange hin und her und sie passten nicht zusammen, die Blätter der Palme und Tygers Wange.
    Das Schweigen zog sich in eine qualvolle Länge.
    Ein Teil von mir wollte hinausstürzen, weg von all dem Unfassbaren. Der andere Teil, offensichtlich weitaus stärker, klebte an Tyger wie an einem gewaltigen Magneten.
    »Sonst was?«, schrie ich ihn an.
    Tyger drehte sich um, sein Blick streifte die Bücher im Regal, dann glitt er zurück und blieb schließlich an seiner Westentasche mit der Taschenuhr hängen. Er zog an der Kette, bis die Uhr in seiner Hand landete.
    Zum ersten Mal sprach er von sich. »Als sich Ambrose in seinem Schreibzimmer erhängen wollte«, sagte er mit einer Stimme, die erstaunlichdünn war, »wurden Zweifel in mir wach. Ich bekam Angst, Todesangst, um genau zu sein. Und diese leisen Zweifel weckten andere . . . menschliche Gefühle in mir. Ich spürte, dass ich meinen Menschen liebte, dass ich seine Geschichten vergötterte, dass ich den Gedanken, sein Leben würde jetzt auf diese Weise enden, nicht ertragen konnte. Es war zu früh. Das war es, was ich dachte. Ich wollte ihn retten, ihn schützen. Aber ein Begleiter kann niemanden retten oder schützen, so etwas kann nur ein Mensch.«
    Tyger brach ab. Er steckte die Uhr zurück in seine Westentasche. Das Schweigen wurde ohrenbetäubend.
    »Und dann?« Meine Stimme war kaum noch ein Wispern. »Was geschah dann? Was haben Sie getan?«
    Tyger ging auf das Bücherregal zu. Er stellte sich in einem Meter Abstand davor auf und sprach mit dem Rücken zu mir, als ob statt meiner die aufgereihten Buchrücken seine Zuhörer wären.
    »Es war im Grunde nur eine einfache

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