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Lucian

Lucian

Titel: Lucian Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Isabel Abedi
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Frage«, sagte er leise. »Ein einfacher – menschlicher – Gedanke. Was wäre, wenn . . .?«
    Tyger holte Luft, ich sah, wie sich seine Schulterblätter weiteten.
    »Was wäre, wenn ich ein Mensch würde? Was wäre, wenn sich die Zeit zurückdrehte? Wenn Lovell – und ich – eine zweite Chance bekämen? Was wäre dann?«
    Diesmal schwiegen wir gemeinsam. Mir kam es so vor, als wartete ich mit ihm zusammen auf die unmögliche Antwort.
    Dann drehte Tyger sich um. »All die Schriftsteller«, er machte eine Handbewegung in Richtung Regal, »hätten es sich so viel leichter machen können mit ihren Zeitreisegeschichten. Keine Pillen. Keine Maschinen. Keine Stürze von Hochhausdächern, kein freier Fall auf Mutter Erde war nötig.«
    Er ließ die Hände sinken und schnippte mit dem Finger. »Es geschah einfach so. Die Zeit drehte sich zurück und ich wurde zumMensch.« Er neigte den Kopf und schien zu warten, was seine Worte bei mir auslösten.
    Die Zeit drehte sich zurück, dachte ich. Er wurde zum Mensch, dachte ich. Die Zeit drehte sich zurück und er . . . Lucian . . . wurde ein Mensch?
    Nein. Oh nein. Dass Tyger mich hasste und wofür er mich hasste, das hatte ich begriffen. Aber was er mir jetzt weismachen wollte, das ging zu weit. Dieser Mann war geistesgestört und wollte jetzt auch mich zum Wahnsinn treiben. Er wollte mir vorgaukeln, dass dieser abstruse halb fertige Roman von Ambrose Lovell der Wirklichkeit entsprach. Sogar die Sekretärin hatte er angestiftet, sein billiges Spiel mitzumachen. Und fast hätte er es geschafft, dass ich ihm glaubte. Aber ich würde ihm zeigen, dass ich auf sein krankes Gerede nicht länger hereinfiel.
    Ich sah ihm fest in die Augen. »Wenn es wirklich so . . . einfach ist, wie Sie behaupten«, sagte ich, »warum macht es dann nicht jeder? Bei allem Respekt, aber es gibt schlimmere, viel schlimmere Todesfälle, als den von Love. . . als den von Ihrem Menschen. Was war mit Emily, die in seinen Armen verblutete? Was war mit Lovells Sohn, der als kleines Kind sterben musste? Warum haben ihre Begleiter nicht gezweifelt? Warum haben ihre Begleiter nicht beschlossen, ihren Menschen zu retten?«
    Tyger lächelte mitleidig. »Auf diese Frage gibt es eine einfache Antwort: Es tut nicht jeder. Um genauer zu sein: Es tut fast niemand. Schon allein aus dem Grund, weil wir Begleiter gar nicht wissen, dass wir solche menschlichen Gefühle überhaupt empfinden können . In Lovells Leben gab es unzählige Gelegenheiten, die in mir den Wunsch hätten wecken können, ihn vor seinem Schicksal zu schützen. Ich war dabei gewesen, als sein Vater bis zur Bewusstlosigkeit auf ihn einschlug. Ich war dabei gewesen, als Lovell seinen jüngstenBruder fand, der sich aus Angst vor dem Vater aus dem Fenster stürzte. Ich war bei ihm, als er von zu Hause fortlief, wie er versuchte zu überleben, praktisch mit nichts. Ich war bei ihm, als er schrieb, seine Geschichten baute wie Häuser, die manchmal einstürzten, weil das Fundament nicht stimmte, aber die er immer wieder aufrichtete. Ich las seine Worte, auch die, die nie ein anderer sehen würde, weil er sie verwarf, um neue zu schaffen.«
    Tyger kam zurück zum Tisch. Er stützte seine Hände auf der Stuhllehne ab und blickte mir in die Augen. »Kurz: Ich teilte seine Leiden und seine Freuden. Aber ich fühlte nicht, wie Menschen fühlen, ich dachte nicht, wie Menschen denken. Nie hatte ich auch nur den leisesten Zweifel an meiner Bestimmung. Ich war bei ihm, ungesehen, ungehört – und es war richtig so. Doch als er sich umbringen wollte, geschah es. Ich fühlte wie ein Mensch. Und deswegen wollte ich sein wie ein Mensch, um ihn zu retten.«
    Tygers Gesicht war jetzt ganz klar. »Ich kann nicht für andere Begleiter sprechen. Ich spreche nur für das, was mich in diesen Sekunden trieb. Mit dem Unterschied, dass ich mittlerweile den Preis kenne, den man dafür zahlen muss.«
    Mein Triumphgefühl löste sich auf. »Welcher Preis?«, fragte ich tonlos. »Womit mussten Sie zahlen?«
    »Mit meiner Erinnerung«, antwortete er. »Als ich zu mir kam, war ich ein Mensch ohne Vergangenheit, ohne Kleider, ohne Handlinien. Da war dieser Schmerz in meiner Brust, den ich mir nicht erklären konnte. Er ließ immer nur dann nach, wenn ich in die Nähe dieses einen Menschen kam: Ambrose Lovell. Es war wie eine unsichtbare Verbindung.« Tyger rieb seine langen gepflegten Finger gegeneinander. Mir fiel auf, dass die Halbmonde seiner Fingernägel einen bläulichen Schimmer

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