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Lucian

Lucian

Titel: Lucian Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Isabel Abedi
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Dinge erklärte, die durch mich hindurchrauschten wie vage Geräusche, versuchte ich, mir vorzustellen, dass wir nicht zu zweit, sondern zu dritt in diesem Wagen saßen. Ich und Dad und sein Begleiter. Wo war meiner? Wo war Lucian?
    Die Stadt wurde immer größer und meine Hoffnung, ihn zu finden, immer kleiner. Auf einem riesigen Leuchtplakat für Damenunterwäschestand die Aufschrift: We make dreams come true . Das Model, eine langbeinige brünette Frau, ließ ihre perlweißen Zähne aufblitzen. Ihr Lächeln kam mir vor wie eine höhnische Fratze.
    Wir fuhren nach Westwood, wo sich gigantische Bürogebäude in den Himmel streckten, wir durchquerten Beverly Hills, wo Touristenbusse Touren zu den Häusern der Stars anboten, wir bogen auf den Sunset Strip ein, die berühmte Unterhaltungsmeile in Hollywood, die Suse wahrscheinlich ebenso galaktisch gefunden hätte wie die Strandpromenade von Venice Beach, und auf den Hollywood Boulevard, auf dessen Walk of Fame die Filmindustrie das Licht der Welt erblickt hatte. Elvis, Lassie und über zweitausend andere Stars waren hier durch einen Marmorstern im Gehweg unsterblich gemacht worden. Dad und ich standen gerade vor der Statue von Charlie Chaplin, als ich einen Jungen mit einer abgewetzten Lederjacke und dunklem Haar erblickte, der sich eine Zigarette anzündete. Ich stürmte auf ihn zu, er hatte mir mittlerweile den Rücken zugedreht, und riss ihn an der Schulter herum.
    »Hi there.« Der Junge grinste. Seine grünen Augen funkelten mich überrascht an. »Kennen wir uns?«
    »Nein. Sorry.« Ich stieß einen tiefen Seufzer aus und ging mit hängenden Schultern zurück zu Dad.
    »Ich will nach Hause«, sagte ich.
    Die ganze Aktion hatte eigentlich nur eins gebracht: Mir war klar geworden, dass ich die Hoffnung, Lucian in diesem Großstadtdschungel zu finden, begraben konnte.
    Und jetzt, wo all meine Versuche gescheitert waren und die Wände meines Zimmers mich zu erdrücken drohten, ließ sich die Angst nicht mehr im Zaum halten.
    Ich tat es, ohne nachzudenken, es war etwas ganz Natürliches und ich konnte kaum fassen, dass ich es nicht schon viel früher gemacht hatte.
    Er meldete sich nach dem dritten Klingeln und er klang verschlafen.
    »Deine Tomate«, sagte ich. »Ich hab sie ausgedruckt und sie hat mir sehr geholfen. Ich wusste gar nicht, dass du so gut malen kannst.«
    Am anderen Ende der Leitung herrschte Stille. Es war eine andere Stille als die von Suse und ich hatte das unangenehme Gefühl, etwas hinzufügen zu müssen, aber plötzlich verließ mich meine Zuversicht.
    »Sebastian? Bist du noch dran? Ich bin’s . . . Becks.«
    »Ja. Das höre ich.«
    »Hi.«
    »Hi.«
    »Hi.«
    »Hi.«
    »Also . . .« Ich kicherte gezwungen. »Hör zu: Fliegt ein Kuckuck übers Meer und trifft einen Hai. Sagt der Hai: ›Kuckuck‹. Sagt der Kuckuck: ›Hai‹.«
    Diese Stille am anderen Ende war nicht gut.
    »Sorry, Becks, aber ich bin grad nicht wirklich in spaßiger Stimmung«, antwortete Sebastian mit gepresster Stimme. Er atmete ein. Er atmete aus. Er fragte die falsche Frage: »Wie geht es dir, Becks?«
    »Gut«, sagte ich zu schnell und zu laut. »Mir geht es wieder gut. Hat Suse dir nicht meine Grüße ausgerichtet?«
    »Doch. Hat sie. Letzte Woche. Letzte Woche Mittwoch. Sie sagte, ihr hättet zusammen gelacht. Sie sagte, du hättest fast wie früher geklungen.« Sebastian atmete ein. Er atmete aus. »Aber ich hab ihr nicht geglaubt. Du klingst nicht wie sonst. Ich weiß nicht, wie ich’s dir sagen soll, Rebecca, aber die letzten vier Tage waren für mich im Vergleich zu der Zeit davor wie vier Jahre. Oder wie vier Ewigkeiten. Auf jeden Fall ein bisschen . . . zu lang. Ich . . . brauch einen Moment. Okay?«
    »Klar. Logisch. Okay.« Ich krallte mich am Hörer fest und sah mich in meinem Zimmer um, dessen Wände mir wieder gefährlich nah auf den Leib rückten.
    Irgendwann hielt ich es nicht mehr aus. »Sebastian«, flüsterte ich. »Bitte! Bitte sag was. Irgendwas!« Gleichzeitig dachte ich: Hilf mir. Sorg dafür, dass sie weggeht, diese furchtbare Angst.
    »Ich mach mir Sorgen, Rebecca. Ich hör doch, dass du nicht okay bist. Wie geht es dir wirklich?«
    »Es. Geht. Mir. Gut!«, presste ich heraus. »Können wir über was anderes sprechen? Bitte?«
    »Tyger ist nicht mehr an unserer Schule«, sagte Sebastian. »Er hat sich Anfang des Monats von mir verabschiedet, keine Ahnung, wo er hin ist, vielleicht zurück nach England. Nach der Stunde rief er mich jedenfalls zu

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