Lucian
lief voraus zum Schwimmbad.
Heute war es deutlich kühler, ich hatte am ganzen Körper Gänsehaut, was sicher auch am Schlafmangel lag. Als ich ins Wasser sprang und auf Miss Strattons Anweisungen zu kraulen begann, legte ich meine ganze Wut auf Tyger in meine Bewegungen. Ich durchpflügtedas Wasser wie eine Besessene, als ginge es um Leben und Tod. Und dann war sie plötzlich wirklich da, die Todesangst, kalt und unmittelbar wie das Wasser. Bei meinem Telefonat mit Sebastian hatte ich hysterisch gelacht, es hatte sich angefühlt wie ein Nervenzusammenbruch, eine durchgeknallte Sicherung, aber jetzt fielen die Traumbilder über mich her, bei jedem Schlag, bei jedem Ausholen und Eintauchen ins Wasser flackerten sie vor meinem inneren Auge auf. Der fremde Raum, der grüne Teppich, die geblümte Bettdecke. Die Scherben, das Blut, der Kronleuchter. Mein verzweifeltes Flehen Bitte, bitte lass mich nicht . . .
Wen? Wen hatte ich angefleht? Lucian? War er es gewesen, den ich beschworen hatte, mich nicht sterben zu lassen? Immer verzweifelter kraulte ich vorwärts, ich fing an zu kämpfen, ich kämpfte gegen den Tod, ich kämpfte gegen diese Bilder, die ich loswerden wollte, denen ich entfliehen musste, ich schwamm, als wäre der Teufel hinter mir her, aber ich war nicht bereit aufzugeben, ich wollte kämpfen.
Das schrille Pfeifen ließ mich jäh innehalten.
Ich krallte mich am Beckenrand fest, den ich gerade erreicht hatte, meine Brust explodierte fast, ich bekam kaum Luft.
Ich sah hoch und blickte in die verdatterten Gesichter meiner Mitschülerinnen. Sie saßen am Beckenrand. Ich war als Einzige noch im Wasser. Neben dem Startblock stand Miss Stratton.
»Wow!«, sagte sie ehrlich verblüfft. »Bereitest du dich auf die Weltmeisterschaften vor oder so was?«
Ich achtete nicht auf die flirrenden Punkte vor meinen Augen. Ich starrte meine Trainerin an, während sich in ihre Worte ein Echo mischte.
Ich hab dich im Schwimmbad gesehen. Übst du für die Weltmeisterschaften oder so was?
Wie ich aus dem Becken kam, wurde mir gar nicht bewusst. Plötzlich stand ich tropfnass vor meiner Trainerin und stammelte: »Ich muss, ich muss . . .«
Dann rannte ich los.
In der Umkleidekabine riss ich meinen Spind auf, zerrte meine Jeans, mein T-Shirt heraus, zwängte die Klamotten über meinen nassen Badeanzug und raste zum Sekretariat.
»Mr Tyger«, presste ich hervor. »Ich muss zu Mr Tyger. Sofort.«
Die Sekretärin, die mich bei meiner Anmeldung mit Dad empfangen hatte, musterte mich besorgt.
»Are you okay, Sweetheart?«
Nein, das war ich nicht.
Tyger gab Unterricht in einer siebten Klasse, ich bekam die Richtung nicht richtig mit, die mir die perplexe Sekretärin wies, aber irgendwie fand ich ihn. Ich riss die Tür auf. Eine Schülerin, die mit rotem Gesicht und ängstlichen Augen vor der Klasse stand, schaute mich an, als sei ich ein Engel, der zu ihrer Rettung gekommen war. Hinter dem Lehrerpult saß Tyger und rührte in seiner Teetasse. Er drehte sich zu mir um und er verstand sofort.
»Ich weiß es«, stieß ich hervor, als er zu mir in den Flur trat. »Lucian ist am Lake Nacimiento.«
»Am Lake Nacimiento?« Tyger runzelte die Stirn. »Was sollte er dort tun?«
»Mich suchen!« Tränen strömten über mein Gesicht. »Mein Vater hat am Lake Nacimiento ein Haus. Ich habe Lucian von diesem See erzählt, nie von Los Angeles. Ich habe nur von Kalifornien gesprochen und vom Lake Nacimiento, durch den ich irgendwann schwimmen wollte.«
Wasser tropfte mir aus den Haaren, es roch nach Chlor, mein ganzer Körper roch nach Chlor. Zwischen meinen Füßen hatte sich einePfütze gebildet. Ein Lehrer, der über den Flur kam, sah Tyger und mich stirnrunzelnd an.
Tyger nahm mich am Arm. »Ich fahre dich«, sagte er.
ZWEIUNDDREISSIG
Straßen, Ampeln, Autos. Zu viele Autos, die krochen, zu viele Autos, die standen und weiter krochen und wieder standen.
Rote Ampeln, rote Ledersitze. Blasse Hände, schmal und lang am Lenkrad. Die Knöchel weiß, das Lenkrad braun, das Lenkrad rechts. Tyger rechts, ich links. Zwischen uns Schweigen. Unter uns der Motor von Tygers englischem Oldtimer, einem Morris Minor, schnurrend. Und endlich, endlich Beschleunigung.
Vor uns Santa Monica Beach, vor uns Malibu Beach, neben Tyger die Straße, neben mir das Meer, neben mir die Küste, neben Tyger die Berge, vor uns die Straße, leerer, die Stadt, Los Angeles, endlich hinter uns jetzt.
Die Straßen kurvig, sich windend, weiter, weg von der Stadt,
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